Anfang – Ende – Rettung

von Sabine Reifenstahl

Mir stockt der Atem, und mein Herz rattert gleich einem Dampfross. Ich blinzle Tränen fort beim Anblick der Fernsehbilder.
Wann bin ich so weich geworden?
Seit alles davon abhängt, was wir täglich senden, erwidert der besserwisserische Devil, wie ich die innere Stimme heimlich nenne. Der kleine Teufel hüpft gut gelaunt auf meiner Schulter herum; jedenfalls meine ich, ihn dort zu spüren. Vielleicht drehe ich langsam durch, bilde mir alles nur ein?
Träum weiter, Süße, ich hol dich schon wieder auf den Erdboden zurück! Kitzelt er mich wirklich mit dem buschigen Ende seines Schweifs?
Ruckartig stülpe ich eine schlabbrige Strickjacke über.
Als würde Devil davon verstummen.
Mit angezogenen Knien hocke ich auf dem Sofa, schaue zuerst eine Reportage, dann Nachrichten. Vergeblich hoffe ich auf ein Zeichen, etwas Besonderes, die Eingebung, die mich von meinem Vorhaben abbringt. Stattdessen beobachte ich, wie ein Stück vom größten Gletscher der Erde ins Meer rutscht, und in der Nordsee Container treiben, deren ölige Brühe die See vergiftet.
Wir müllen unseren Planeten mit Plastik zu, ohne Rücksicht auf Verluste. Dass die Meeresbewohner die ersten sind, die daran verrecken, interessiert die Menschheit nicht. Hält sie sich doch für die Krone der Schöpfung, vergisst, dass jeder Aktion eine Reaktion folgt, nichts ungesühnt bleibt.
Ich sehe Leute in gelben Westen wider das System protestieren, erfolglos; Bomben explodieren und töten Unschuldige.

Die Nachrichten sind voll übler Botschaften. Sorgloser als Kinder senden wir sie in den Äther, glauben, wir sind allein; denken, was wir tun, geht nur uns etwas an.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Was wir auf der Erde anrichten, zieht Wellen durch den Kosmos. Sie zu brechen, bedeutet, Welten zu retten, von einer Krankheit zu befreien, deren Auswüchse gleich unheilbarem Krebs wuchern würden. Wir sind der Virus, der droht, das Universum zu infizieren. Und der Impfstoff wurde bereits injiziert!
Bei diesem Gedanken lächle ich bitter und schalte den Flimmerkasten aus, wische stattdessen durch die Luft.
Durch meinen Wink wird eine Aufnahme abgespielt. Brennend rast der bergmassivgroße Himmelskörper durch die Atmosphäre. Der glühende Gesteinsklumpen explodiert am Boden, ein greller Feuerpilz verschlingt das Blickfeld. Ich spüre Hitze, beobachte durch einen Tränenschleier die Druckwelle, wie sie glutheiß über die Erde prescht und sämtliche Kreaturen auslöscht; zuletzt mich. Dabei stehe ich auf einem exponierten Punkt der Atacama-Wüste im Norden Chiles.

Das Auge, wie ich das Riesenteleskop liebevoll nenne, wurde erst vor zwei Jahren in Betrieb genommen.
Ich gehöre nicht zu den Forschern, die einen Blick hindurch werfen dürfen, sondern zum Technikpersonal.
Vielleicht wurde ich gerade deshalb ausgewählt.
Aus ein paar Kabeln und Leiterplatten fummle ich alles zusammen, wonach die Wissenschaftler verlangen. Schön, bei einer Maschine, die ihnen den Hintern hinterherträgt, hörte selbst mein Können auf. So sind sie, die gebildeten Leute, die hier herumwuseln, mich kaum wahrnehmen, außer um Aufträge zu erteilen.
Daher kam es mir auch nicht komisch vor, als mir ein Bauplan zugeschickt wurde. Das Einzige, was mich hätte stutzig werden lassen müssen, war die freundliche Anrede.
Auf diese Art begann der Kontakt. Wovon die Menschheit immer träumte, wurde mir in den Schoß geworfen. Mir, und nicht den Eierköpfen ringsum! Ich erhielt den strengen Befehl, mit niemandem zu reden, sondern einfach zuzuschauen, um dann die Entscheidung zu fällen.
Die Zukunft der Erde liegt in meinen Händen! Und ich bin nicht besonders froh darüber. Unwissenheit ist ein Geschenk und Unvernunft immerhin noch eine milde Gabe. Beides bleibt mir verwehrt. Es ist wie der Hauptgewinn in einer Lotterie, an der ich nie teilnahm, und deren Gewinn alles, bloß kein wertvoller Preis, ist.
Bei diesem Einwurf stocke ich.
Der Preis ist die Schöpfung selbst. Ich darf sie retten oder zum Untergang verurteilen!

Und so schaue ich auf das klare Bild von mir, wie ich mit wehenden Haaren die Druckwelle erwarte. Beide Ichs halten die Augen weitgeöffnet, doch während das eine in der Hitze vergeht, steht das andere in einem kleinen Apartment und macht einen Schritt vorwärts.
Ein winziger Schritt nur, aber ein Riesensprung für die Welt!
Diesmal lande ich Millionen Jahre in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, bin bei Erklärungen von Tachyonen und Dunkler Materie längst ausgestiegen. Wichtig ist, dass ich durch den kaum sichtbaren Ring in meiner Wohnung jede Zeit erreichen kann. Hundertfach versuchte ich, das Schicksal zu ändern – jede Zeitlinie endete mit dem gleichen Ergebnis. Ein Asteroid schlägt in Nordamerika ein, die Wucht wirft unseren Planeten aus der Bahn. Wer nicht das Glück hatte, mit der ersten Welle zu sterben, erlebt, wie unser wundervoller Planet sich in einen glühenden Feuerball verwandelt.
Die harte Faust der extraterrestrischen Mitbewohner trifft den blauen Planeten inmitten der schwarzen Unendlichkeit, um unzähligen Welten Frieden zu schenken und sie vor der Zerstörung des sich krebsartig ausbreitenden Geschwürs namens Menschheit zu erretten.
Und all das, weil wir die Erde als Privatbesitz betrachten, sie gnadenlos auslaugen und dabei weder Rücksicht auf andere Spezies noch auf die eigene nehmen.

Wir sind nicht allein! Das hätte uns klar sein müssen. Was wir dem interstellaren Publikum boten, bewog jenes, den Verlust eines ganzen Planeten hinzunehmen, um eine einzige Art am Überleben zu hindern.
Keine Seele da draußen will von uns besucht werden! Im Gegenteil! Solang wir in der irdischen Buddelkiste wühlten, mischte niemand sich ein. Aber nun strecken wir unsere gierigen Pranken nach dem Sonnensystem aus, und es ist nur eine Frage der Zeit, dass wir weiter in die Tiefen des Alls vordringen.
Würden!
Der Konjunktiv ist die entscheidende Essenz meiner Aufgabe. So oft ich in die Vergangenheit reiste, mal hier eingriff, mal dort, es änderte nichts. Ein erschlagener Diktator wurde spornstreichs vom Nächsten ersetzt, und die Entwicklungsgeschichte nimmt den vorbestimmten Lauf: Wir werden von Gier bestimmt. Sie ist die Triebkraft unserer Entwicklung und am Ende auch unser Untergang.
Ich habe lange aufgehört zu zählen, wie oft ich von der Druckwelle zerstäubt wurde. Das schien mir ein geringer Preis fürs Überleben der Menschheit. Meine Auftraggeber warteten geduldig, ließen mich selbst zur unausweichlichen Erkenntnis finden. Ich bin die heilende Injektion fürs Universum, bestimme dessen Fortbestand.

Langsam werde ich es müde, außerhalb des ewiglich drehenden Rades der Zeit gefangen zu sein, hundertfach den Niedergang der Menschen und die Zerstörung meiner Welt zu erleben. Bilder von Mammuts, Dronten, Beutelwölfen, Tigern, Bienen ziehen durch meinen Geist – unschuldige Geschöpfe, dem Verderben geweiht von Homo sapiens.
Sie alle haben ein Recht auf diese Welt!
Devil pflichtet mir bei: Vielleicht bewegst du endlich deinen Arsch, Süße?
Bekümmert fälle ich die Entscheidung, vertraue auf das Versprechen meiner Auftraggeber, die Gefahr von unserem Planeten abzuwenden, sofern von unserer Spezies keinerlei Bedrohung mehr ausgeht. Nach endlosen Versuchen ist sicher: Keine Macht der Welt ändert den Charakter der menschlichen Zivilisation.
Gier und Krieg bleiben Triebfeder der Entwicklung, wir werden nie zu gemeinschaftlich denkenden Wesen, sondern bleiben gefangen im begrenzten Mikrokosmos.
Ich will mich da nicht ausnehmen!
Man bot mir an, mich zu retten. Aber würde ich damit nicht bestätigen, was ich so hasse?
Mitgehangen, mitgefangen, denke ich und sehe mich um.
Der Blick schweift über die Landschaft: sattgrüne Vegetation. Saubere Luft prickelt in den Lungen. Meine bloßen Zehen versinken im Boden. Tief atme ich die süßen Düfte ein. Insekten summen. Das Leben vibriert und entfaltet sich nachhaltig.
Zum letzten Mal genieße ich kühlenden Wind auf der Haut.

Dort unten beginnt die Menschwerdung, nimmt das Bewusstsein den Anfang. Eine Gruppe Primaten ist eben im Begriff, die Baumwipfel zu verlassen, um die Savanne zu erobern, den aufrechten Gang zu lernen, genau wie Neid, Gier und Kampf.
Meine Waffe tötet sie, bevor ihnen bewusst wird, was geschieht.
Der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Vergangenheit wird zum Orkan in der Zukunft!
Lächelnd schaue ich an mir herab. Licht scheint durch meinen Leib. Er verweht mit der lauen Brise, mit ihm die ersten Anzeichen der Krankheit, die die Welt zu vernichten drohte. Die Zivilisation wird nie geboren, das Paradies ist gerettet.
Mit einem letzten Lidschlag sehe ich, wie der Asteroid an der Erde vorbeizieht – das Geschenk für meine Tat.
Mein Herz zerspringt vor Glück. Tief im Innern hoffe ich, einer anderen Art den Weg geebnet zu haben.
Mein Verstand verfliegt mit dem Wind, breitet sich aus; unter mir liegt eine wundervolle, geheilte Welt.

3 thoughts on “Anfang – Ende – Rettung

  1. Sabine, dafür gibt es nur eins: Daumen hoch! Ein tiefsinniger Text, inhaltlich ganz nach meinem Herzen. Endlich keiner der üblichen Kommentare über Klimawandel, Plastikmüll. Du begreifst den menschlichen Charakter in seinen Grundzügen, siehst die Vergeblichkeit, ihn ändern zu wollen. Und das ganze auch noch prickelnd geschrieben! Meinen Glückwunsch.

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