Der Bonsai-Impuls

von Barbara Biegel

Die Welt war in Bewegung. Es lag in der Luft, dass Änderungen bevorstanden. Die Frage war, inwiefern man Einfluss nehmen konnte auf die kommenden, die Republik gefährdenden Ereignisse. Er hatte als Oberster Mann des Staates genug Erfahrung, um zu wissen, dass es am besten war, als Erster am Zug zu sein.

Wie durch ein Wunder kam der Hinweis, wie am besten mit der nahenden Bedrohung umzugehen wäre, aus seinem privaten Umfeld. Er betrat den Großen Saal im Palast der Republik und entdeckte in dem kleinen Wäldchen der Bonsais eine unschöne Störung. Noch am Vortag hatte die als künstlicher Wald angeordnete Sammlung seiner Prachtexemplare Topf an Topf, Krone an Krone gestanden, jetzt klaffte eine Lücke in der arrangierten Landschaft aus Töpfen und Baumkronen.
Noch nie hatte ein Wurzelballen dieser kleinen Kunstwerke es vermocht, den Topf zum Platzen zu bringen, doch genau das war geschehen: der Rosmarin, seit Jahren als Bäumchen gezogen, vollendet geformt, hatte sein Tongefäß gesprengt, Stamm und Nadeln lagen beschmutzt inmitten von Erde und Scherben. Das erfolgversprechendste Geschöpf, die große Seltenheit unter den in dieser Kunstform gezogenen Gewächsen, war der Zersplitterung anheimgefallen.
Soeben war er sich noch der Anerkennung befreundeter Staatenlenker sicher gewesen; seit dem Ende des letzten Krieges hatte er sich, wie alle in der Union geeinten Mächtigen, der Zucht solcher Gewächse verschrieben, nun lag sein wichtigstes Werk inmitten türkisfarbener Scherben. Dieser Verlust würde seine Autorität untergraben und seinem Ansehen schaden, soviel war sicher. Als Vorsitzender des Staatsrats eines so kleinen Landes konnte er sich keine Schwäche leisten. Vor allem der imperialistische Nachbarstaat würde alles tun, um diesen Misserfolg für perfide Propagandazwecke zu nutzen. Doch plötzlich, angesichts des bedauernswerten Bäumchens, sah er den Ausweg aus der drohenden Deklassierung, die Lösung des Problems lag direkt vor ihm: Zersplitterung! Durch Zersplitterung würde es ihm gelingen, den Gegner zu schwächen und auch seinen vorgeblichen Freunden, den Staatslenkern der Brudervölker, konnte er auf diese Weise etwas entgegensetzen.
Sein Volk würde ihm, ohne es zu wissen, dabei helfen. Er hatte es im Griff. Wie seine Bonsais verharrten die Staatsbürger am ihnen zugewiesenen Platz oder tummelten sich in den kleinen, großzügig gewährten Freiräumen wie Hasen in ihrem Gehege. Beim Anblick des Rosmarins nahm die Idee, sein Volk als Waffe zu benutzen, Gestalt an und wurde, je länger er darüber nachdachte, zur Gewissheit: seine treuen Staatsbürger würden zur Zersplitterung der Welt beitragen.

Wenige Wochen später war es soweit. Der Geheimdienst war instruiert, die Wir-sind-das-Volk-Bewegung hatte sich gut entwickelt und war so weit gediehen, dass die in Unruhe versetzte Bevölkerung nach einem gezielten Anstoß für die vermeintliche Freiheit auf die Barrikaden gehen würde. Klug bewies er Geduld, ließ die ganze Geschichte noch etwas hochkochen und nahm dann den 40. Jahrestag der Staatsgründung zum Anlass, den Aufstand sichtbarer werden zu lassen. Dann ging alles wie von selbst. Wie geplant öffnete er im November die Grenzen.
Sein Volk strömte durch die Übergänge wie Alkohol durch Flaschenhälse, wogte eine Zeitlang hin und her, und endlich verließen fast zwei Millionen Bürger das Land, leider nicht ganz so viele wie erhofft, doch er war sicher, es würde reichen, denn es waren diejenigen, die ihre Nasen in alles steckten, die mutigsten und vorwitzigsten, sie würden mehr Schlagkraft als die angepassten Ängstlichen haben. Sie breiteten sich wie vorgesehen vor allem bei den direkten Nachbarn aus und mischten sich dort unter die breite Masse.
Nach einer klug bemessenen Zeitspanne aktivierte er Helfershelfer und drehte an einigen Stellschrauben mit dem Ergebnis der Gründung einer Partei, die vorgab, für das Gegenteil von Zersplitterung einzutreten, nämlich für die Einheit des Volkes. Dabei war ihr einziger Auftrag, an den Grundfesten der Demokratie zu rütteln. Ihre Wähler waren die Wurzeln, die den Druck auf das Tongefäß erhöhten und das Staatsgebilde der Gegner zu sprengen suchten. Als Zugabe kamen externe Probleme gerade recht, Probleme, die durch Zersplitterung in anderen Weltgegenden entstanden waren, Fluchtbewegungen und ein gefährliches Virus.

Bald war die Zersplitterung überall, es gab Impfgegner, Reichsbürger, Trolle, Medienkritiker, Verschwörungstheoretiker und fanatische Gläubige, es gab mehr und mehr Leute, die sich nicht an Regeln hielten, so etwas war ansteckend, wenn man es nur in die richtigen Bahnen lenkte. Das einzige, was ihm noch gefährlich werden konnte, war der Geheimdienst, seine Angehörigen waren Mitwisser, er hatte sie gebraucht, um die sogenannte ‚Friedliche Revolution‘ in die Wege zu leiten, sie wussten über ihn und seinen Plan Bescheid.
Es war zu befürchten, dass auch sie der Zersplitterung anheimfallen würden, die unaufhaltsam alle Tugend zersetzte, die Schranken von Rücksicht und Solidarität einriss und einem hemmungslosen Machtwillen Bahn brach. Denn trotz allem war ihm bewusst: In der Welt herrschte Dualität – und das Gegenteil von Zersplitterung war Einheit. Er musste von seiner Person ablenken. Die Einheit war der Feind. Im Zustand der Zersplitterung wollte jeder dem Nächsten ans Leder.
Doch es sah gut für ihn aus. Er hatte seinen Leuten eingeredet, auf eine Stufe mit den Mächtigen der Welt gelange man nur durch leidenschaftliche Bonsai-Zucht. Es kam schon zu Gerangel bei Wettbewerben. Sein Ziel war zum Greifen nah: das Land in Zwietracht zu stürzen und die Welt an den Abgrund zu manövrieren.

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