Unterwegs im Nebel

Unterwegs im Nebel

von Daniela Schneider

Ich husche atemlos über das Kopfsteinpflaster. Ein Schulterblick – keine gute Idee.
Die glimmenden gelben Augen in der Dunkelheit haben sich in meiner Netzhaut eingebrannt. Was können diese eitlen Biester auf den Tod nicht ausstehen? Genau, Wasser. Also auf zum Fluss. Meine Beine sind leider kürzer als die meiner Verfolgerin, und dazu noch der unpraktische Schwanz, den findet sie sicher zum Anbeißen!
Sie kommt immer näher. Zu nahe. Ich laufe durch sämtliche Pfützen, in der Hoffnung, sie zu einem Umweg zu zwingen, aber sie fliegt mit einem Satz darüber. Mein Herz klopft bis zum Hals, ach was, bis zu den Schnurrhaaren!
Sie hält kurz inne in ihrer Jagd. Kein gutes Zeichen. Gleich wird sie auf mich ansetzen, die Krallen ausgefahren.

Ich schlage einen Haken, und sie verbiegt sich die Fingernägel dort, wo ich gerade noch war.
Nur noch wenige Meter bis zum Fluss!
Mit den letzten Reserven rase ich darauf zu, nochmals setzt die Katze an und springt, ich schlittere das letzte Stück, bis unter mir der Boden verschwindet, die Katze greift nach meinem Schwanz, ich ziehe ihn in letzter Sekunde weg, falle, platsch, und lande im Fluss, unter Wasser, lasse mich nach unten sinken. Eine stille, dunkle Welt umfängt mich. Kalt, emotionslos. Wie der Tod, dem ich gerade um Haaresbreite entkommen bin.
Ich schaue nach oben und sehe das Licht der Restaurants, wo ich sonst auf Beutezug gehe – unwirklich und fern. Mein Herzschlag hallt in der Leere wieder. Das Leben pulsiert in mir, meine Lungen schreien nach Luft!

Ich tauche auf. Die Luft an der Oberfläche ist noch kälter als das Wasser. Nebel hängen über dem Fluss. Eine leere Coladose schwimmt vor mir. Erschöpft klammere ich mich daran fest und lasse mich treiben, zitternd im kalten Herbstwind.

Im Schutz einer Brücke angekommen, schüttele ich mich ausgiebig. Hier ist es wenigstens trocken – und warm.
Ein Haufen alter Zeitungen glimmt vor sich hin, verbreitet stinkenden Qualm und ein bisschen Wärme. Ich hocke mich zu dem Bärtigen, der in die Glut starrt, in der Hoffnung, dass er in Bezug auf Gesellschaft nicht wählerisch ist. Wir Ratten sind bei den meisten Menschen nicht besonders beliebt. Sein Blick fällt auf mich; und sein Mund zieht sich nach oben in einem bitteren Grinsen. Er zieht ein Viertel Brot aus der Tasche, von dem er abbeißt. Dafür kann er den Mund beunruhigend weit öffnen, was mich irgendwie an die Katze erinnert.
Moment! Hat er mir gerade ein Bröckchen hingeworfen?
Misstrauisch beäuge ich es. Dann schieße ich los, schnappe es mir und zerre es in sichere Distanz.

Ein paar Bröckchen später bin ich ziemlich sicher, dass er mir nichts tun will, und futtere zufrieden in seiner Nähe.
Wer hätte gedacht, dass ich von ihm besser und sicherer versorgt werde als von zwei Restaurants? Ich bilde mir ein, sogar sympathische Merkmale an ihm zu erkennen: Zwar ist sein Gesicht schon ziemlich alt und faltig, aber die Nase ist lang und spitz, der graue Bartwuchs ähnelt Schnurrhaaren, und er hat abstehende Ohren – und das Beste: Er riecht unglaublich aromatisch.

Ich erwache aus traumlosem Schlaf. Ein fahler Morgen, so früh, so herbstlich, dass die Sonne kaum Kraft hat.
Wo ist mein Freund?
Keine Spur von ihm, nur ein paar Kippen. Der Wind spielt mit Zeitungsfetzen, die das Feuer übriggelassen hat.
Ich bin fest entschlossen, ihn zu suchen! Ich laufe drauf los, immer der Nase nach. Er ist nicht zu überschnüffeln. Anscheinend haben wir sogar ähnliche Vorlieben, denn ich entdecke ihn an einem wohlriechenden Mülleimer, wo er seinen Rollator geparkt hat. Leute, die in Mülleimern nach Flaschen suchen, habe ich schon häufiger gesehen. Auch wenn es mir schleierhaft ist: Da ist so viel leckeres Zeug drin, und sie nehmen nur Flaschen mit…
Die spinnen, die Menschen.

Mein Freund ist fündig geworden, zieht etwas heraus und lächelt wieder mit einem Mundwinkel. Dabei ist es weder eine Flasche, noch ein leckerer Apfelrest, sondern eine Zeitung!

Ohne zu zögern breitet er sie auf dem Boden aus und blättert sie hastig durch. Ich nutze die Gelegenheit und mache mich währenddessen über die essbaren Inhalte des Mülleimers her. Mein Freund scheint gefunden zu haben, was er sucht, und stopft die zerwühlten, anscheinend uninteressanten Reste wieder zurück.
Er liest. Dann bricht er in heiseres Gelächter aus, das in Schluchzer übergeht. Er zerknüllt den Artikel und steckt ihn in seine Jackentasche.
Ich habe die vage Vermutung, dass das Lagerfeuer gestern Abend eine ähnliche Herkunft hatte.

Im Gegensatz zu anderen Menschen scheint mein Freund einen guten Geruchssinn und einen guten Geschmack zu haben, denn er steuert zielgerichtet die vollsten Mülleimer an, um Zeitungen herauszufischen und darin zu lesen. So wird mein Tag zu einem Festessen.

Dunkelheit legt sich über die Stadt, und Nebel kriecht aus den Ritzen.
Plötzlich bleibt der Alte stehen, mitten auf der Straße. Hoffentlich kommt kein Auto! Er reckt seine Nase in den Wind, als wolle er schnuppern. Aber danach ist er orientierungsloser als zuvor, schaut sich unsicher um. Die Hand, die sich an den Rollator krallt, ist ganz weiß vor Anspannung.

Ganz langsam, wie ein Träumender, geht er weiter. Links und rechts erheben sich alte Villen in ergrauendem Putz mit laubversunkenen Vorgärten aus dem Nebel. Vor einem Haus hält er inne. Hinter Scheibengardinen aus weißer Spitze brennt Licht.
Eine alte Frau sitzt im Sessel am Fenster und schaut nach draußen. Sie sitzt schon so lange dort, dass sie den Alten draußen zunächst gar nicht sieht. Erst, als er sich wieder umwendet, schwer auf die Gehhilfe gestützt, erwacht sie zum Leben, reibt sich ungläubig die Augen, und sieht ihn nur noch im Nebel verschwinden. Ohne den Blick vom Fenster zu wenden, greift sie zum Telefon.

Ich folge meinem Freund zurück zu der Brücke, wo er die gesammelten Zeitungen anzündet. Von jedem Blatt schaut mir mein Freund entgegen, er sitzt neben einer lieben alten Dame auf einem Sofa und lächelt – ohne die übliche Bitterkeit. Jetzt züngeln Flammen darüber.

Der Alte starrt mich an.
„Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Wo sind sie nur, meine Gedanken und Erinnerungen?“, murmelt er. Dann geht er auf mich los, ganz ohne Rollator, gerade noch kann ich seinen Stiefeln ausweichen.
„Verschwinde!“
Seine Stimme überschlägt sich.
„Weg mit dir!“
In der Ferne hört man Sirenen, ein Hubschrauber mit Suchscheinwerfer lauert über den Dächern wie ein Raubvogel auf Beutezug. Er erstarrt.

Ich folge ihm in sicherem Abstand, während er durch die neblige Nacht zieht. Der Rollator holpert unkontrolliert über das Kopfsteinpflaster, der Alte läuft mehr, als dass er geht, hält sich im Schatten der Hauswände. Über uns knattert der Hubschrauber, mein Freund ändert bei jedem Autogeräusch die Richtung.

Dann, ganz ohne Grund, wird er langsamer und bleibt schließlich stehen. Seine Augen sind angstgeweitet.
„Mama, Fliegeralarm!“, ruft er. Und wieder: „Mama, wo bist du?“

Der Hubschrauber senkt sich über ihn und fängt ihn in seinem Lichtkegel. Ich verstecke mich unter einem Auto am Straßenrand. Aus allen Seitenstraßen kommen Polizisten.

Der alte Mann scheint sich plötzlich zu erinnern. Versucht zu fliehen, so schnell er kann. Aber es ist zu spät. Zwei Polizisten ergreifen ihn behutsam, aber bestimmt.
„Lassen Sie mich!“, brüllt er.
„Ich weiß, ich bin krank, aber ich kann … gut auf mich selbst aufpassen!“
Halb stützen sie ihn, halb müssen sie ihn festhalten.
„Ganz ruhig. Wir werden Sie zu Ihrer Frau bringen. Sie können zusammen in eine spezielle Wohngemeinschaft für Demenzpatienten ziehen, wo sie bestens betreut werden.“
„Sie soll mich nicht so sehen! Sie soll nicht zusehen müssen, wie es bergab geht mit mir!“
Der alte Mann versucht, sich aus dem Griff der Polizisten zu befreien, gibt aber schließlich erschöpft auf.

Ich schaue hinter mich. Die Pupillen der Katze sind im Scheinwerferlicht zu schwarzen Schlitzen verengt.

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