Arlandia

von Bernard Pekrul

„Wir brauchen ein Abenteuer, bevor wir in alle Winde zerstreut werden!‟, sagte Dennis und blickte mit einem Bier in der Hand zu seinen Freunden Tobias und Mark. Es war seine Idee, mit ihnen den Hochschulabschluss in seinem Kölner Stammlokal zu feiern. „Au ja, ein Abenteuer!‟, stimmten die Freunde mit ein, während sie ebenfalls ihr Bier hoben und anstießen.
Das „System‟ hatte ihnen, zu ihrem Unmut, weit voneinander entfernte Studienorte zugewiesen. „Dieses ‚System‛‟, sagte Mark und schüttelte dabei den Kopf, „es macht, was es will!‟ „Es regelt eben alles auf dieser Welt‟, entgegnete Dennis und strich sich dabei über seinen braunen Kurzbart. „Klar, aber wer oder wie genau, das weiß doch keiner.‟ „Genau‟, sagte Tobias, „und diese ‚Systemwächter‛ geben keine Auskunft. Guckt mal vorsichtig zur Theke, dort sitzt so einer.‟
Alle drei schielten zur Theke. Der eher hagere Mann dort wirkte unauffällig, aber er trug das typische Abzeichen der Systemwächter: Ein Abbild der Erde im Zentrum von sechs Kreisen, die sechs Kontinente symbolisierend. Dennis wusste, dass das „System‟ zu Zeiten seiner Urgroßeltern während der weltweiten Krise eingeführt wurde. In der Schule wurde gelehrt, dass es Einheit, Wohlstand und Gerechtigkeit gebracht hat. Dennoch gab es immer mehr Menschen, die dem System misstrauten. Auch die Systemwächter tauchten nach und nach auf, und keiner wusste, woher sie kamen.

„Kennt ihr eigentlich die ‚Legende von Arlandia‛?‟, warf Dennis ein, um auf andere Gedanken zu kommen. „Nein, erzähl!‟, stimmten Mark und Tobias ein.
Dennis nahm zunächst ein paar Schlucke Bier und fing danach an zu spechen:
„Damals, während der großen Krise, wurde das ‚System‛ von der Weltbevölkerung mit Begeisterung angenommen. Nur die Bevölkerung auf einer Insel in Nordwesteuropa lehnte es ab. Diese Insel hieß früher ‚Irland‛. Offiziell existiert diese Insel nicht, man wird sie nirgendwo finden. Mündliche Überlieferungen nennen sie aufgrund von Lautveränderungen ‚Arlandia‛‟.
„Woher hast du das?‟, fragte Mark neugierig. „Aus einem alten Papierbuch.‟ „Papierbuch?‟, Mark blickte Dennis überrascht an, „ich dachte, die gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr.‟
„Normalerweise nicht, aber mein Großvater hatte einige auf dem Dachboden versteckt. Darunter war auch das Buch über Arlandia. Es wurde vor 30 Jahren von einem Professor Murdock von der Universität Liverpool geschrieben.‟ „Dann auf nach Arlandia!‟, sagte Tobias und hob sein Bier, „das Abenteuer wartet!‟ Dennis sah, dass der Systemwächter genau in ihre Richtung blickte.
„Etwas leiser‟, ermahnte er, „wir sind hier nicht alleine!‟
„Wir wissen nicht einmal, ob es Arlandia überhaupt gibt‟, fuhr er fort, „vielleicht ist es nur ein Märchen.‟
„Wir könnten den Professor aufsuchen, wenn er noch lebt‟, meinte Mark. Dennis kratzte sich an seinem Bart. „Liverpool, hm, warum eigentlich nicht? Wer ist dafür?‟ Alle drei hoben sie ihr Bierglas und stießen an.

Zwei Tage später am Mittag trafen sich die Freunde mit ihren Reiserucksäcken am Kölner Hauptbahnhof. Während der Fahrt im Hochgeschwindigkeitszug holte Dennis sein Buch hervor. Er schlug eine Seite auf, in der sich eine Karte befand. „Seht mal‟, Dennis zeigte auf die Karte, „westlich von der britischen Insel soll sich dieses Arlandia befinden.‟ „Wenn es diese Insel wirklich geben sollte, warum weiß davon niemand?‟, fragte Mark und schüttelte dabei den Kopf. „Vielleicht hat das System sie entfernt?‟, meinte Tobias, „die Papierbücher wurden nach der Digitalisierung vom System vernichtet, und digitale Daten lassen sich manipulieren.‟ Dennis zuckte mit den Schultern.
Es war bereits dunkel, als sie in Liverpool ankamen, und sie nahmen sich eine Unterkunft in der Nähe des Bahnhofs.

Am nächsten Morgen frühstückten sie in der Herberge und gingen zu Fuß zur Universität. Dort angekommen fragten sie im Sekretariat nach einem Professor Murdock. Die Sekretärin war eine ältere Dame. Sie hatte ihr ergrautes Haar streng nach oben gesteckt.
„Einen Professor Murdock hat es hier nie gegeben‟, sagte sie bestimmt. „Aber …‟ „Gehen Sie nun bitte!‟, unterbrach die Sekretärin mit spitzem Mund. Enttäuscht verließen die drei Freunde das Sekretariat. Dennis blickte sich noch einmal um und sah, dass die Sekretärin nach dem Telefon griff.
„Wir sollten von hier verschwinden‟, meinte er und beschleunigte seinen Schritt. Sie beeilten sich, den Campus und die zwei plötzlich aufgetauchten Systemwächter hinter sich zu lassen. „Das wird ja immer dubioser‟, meinte Dennis, „das System lässt also Inseln, Menschen, Bücher, einfach alles verschwinden, was nicht genehm ist.‟ Eine Zeit lang gingen die Freunde schweigend nebeneinander Richtung Hauptbahnhof. Mark blickte auf sein mobiles Gerät.
„Wir könnten mit dem Zug nach Holyhead fahren. Das ist direkt an der Westküste. Dort könnten wir uns ein Boot mieten, um nach Arlandia zu kommen.‟ „Gute Idee‟, sagte Dennis.
Am Liverpooler Bahnhof wieder angekommen nahmen sie den nächsten Direktzug nach Holyhead. Der Ort wirkte zunächst ein wenig trostlos und gab nicht viel her. Der alte Hafen muss vor langer Zeit stillgelegt worden sein.
Dennis blickte sich unsicher um. „Wieso halten sich in solch einem kleinen Ort so viele Systemwächter auf?‟, murmelte er kaum hörbar. Um unauffälliger zu wirken, deponierten sie ihr Gepäck in einer der Herbergen. Mit jeweils einem kleinen Stadtrucksack auf dem Rücken kamen sie am neuen Hafen an. Sie sahen allerdings fast keine Boote, geschweige denn einen Bootsverleih.
Am Ufer saß ein älterer Mann und las. Ihn fragten sie, wo man ein Boot mieten könne. „Nirgends‟, antwortete der Mann kurz und knapp, „nur Anwohner dürfen hier Boote benutzen und auch nur in Sichtweite.‟ Die drei Freunde schauten sich enttäuscht an.
Der Mann am Ufer blickte sich unauffällig um und holte dann eine namenlose Adresskarte aus seiner Tasche, die er ihnen aushändigte. „Kommt heute Nacht um ein Uhr zu dieser Adresse und bringt genügend Geld mit.‟

Kurz vor eins standen die Freunde vor der besagten Adresse. Das Haus stand direkt am Wasser und völlig im Dunklen, als sei es unbewohnt. Dennis klopfte vorsichtig an die Haustür. Sie hörten ein paar Schritte, und die Türe öffnete sich leise.
An der Tür stand der Mann, der ihnen nachmittags die Adresse gegeben hatte. „Kommt herein‟, sagte er und führte sie im Dunklen in den Keller hinunter. Erst dort knipste er seine Taschenlampe an. Der Kellerraum stand zum Teil unter Wasser, und es befanden sich drei E-Boote darin. Am Ende gab es ein Tor, das direkt ins Meer führte.
„Tagsüber müsst ihr außer Sichtweite bleiben. Nachts könnt ihr das Boot zurückbringen.‟ „Alles klar, danke‟, sagte Dennis und steckte dem Mann eine 100-Dollar-Silbermünze zu. Die drei bestiegen eins der Boote und drückten den Startknopf. Am Lenkrad gab es einen Hebel, der die Geschwindigkeit regelte. Langsam fuhren sie aus dem Keller hinaus aufs Meer und versuchten, sich möglichst schnell von der Küste zu entfernen. Kurze Zeit später sahen sie einen Scheinwerfer über das Meer huschen.

„Ich dachte, nachts sind hier keine Systemwächter aktiv‟, flüsterte Tobias. Der Scheinwerfer war nun direkt auf das Boot gerichtet. „Kommen Sie sofort an Land!‟, hörten sie durch einen Lautsprecher, „Achtung, es wird keine zweite Warnung geben!‟
„Gib Gas!‟, sagte Mark, „wir müssen hier weg!‟ Dennis stellte den Hebel auf Höchstgeschwindigkeit, und sie fuhren aufs offene Meer hinaus. Hinter sich hörten sie Schüsse, die nicht allzu weit von ihnen ins Meer einschlugen.
Nachdem nichts mehr zu hören war, drosselte Dennis das Boot. Hinter ihnen lagen entfernt die Lichter von Holyhead und vor ihnen nichts als Dunkelheit. „So, jetzt sollten wir uns westlich halten, dann müssten wir irgendwann auf Arlandia stoßen‟, meinte Dennis, nachdem die Freunde sich etwas beruhigt hatten. Sie entfernten sich nun immer weiter von der Küste, schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Es war nicht allzu dunkel auf dem Meer. Der Mond und die Sterne wirkten heller als sonst. Nach etwas über zwei Stunden Fahrt kam plötzlich ein Wind auf, der sich immer mehr zu einem Sturm entwickelte. „Wichtig ist jetzt, Kurs zu halten‟, schrie Dennis gegen den Sturm an. Dennis und Mark hielten das Steuer gemeinsam fest, während sich das Boot auf und ab durch die Wellen schlug.
Nach über einer halben Stunde Kampf mit dem Sturm hörten die Freunde plötzlich ein Poltern, und das ganze Boot wurde erschüttert. Sie konnten sich nicht mehr festhalten und fielen über Bord. Dann war nichts mehr zu spüren.

Dennis kam langsam zu sich und spürte etwas Hartes unter sich. Er schlug die Augen auf und sah sich um. Es war helllichter Tag, und er lag auf einer felsigen Küste. Das zerbrochene Boot lag ein paar Meter entfernt, und er sah nun auch Tobias und Mark, die langsam zu sich kamen. Tobias fasste sich an den Kopf. „Wo sind wir?‟
„Arlandia vielleicht‟, meinte Dennis und zuckte mit den Schultern, „wir sollten uns mal umsehen.‟ Sie standen auf und gingen in Richtung der nahegelegenen Ortschaft. Es war mucksmäuschenstill. Je näher sie sich der Ortschaft zubewegten, desto mehr wurde ihnen bewusst, dass dies kein Ort war, in dem jemand lebte. Kein Mensch war unterwegs, die Häuser waren baufällig oder zerstört, und eine leichte Brise fegte Plastiktüten und Papier durch die verwahrlosten Gassen.
„Das sieht ja wie nach einem Krieg aus‟, meinte Mark. „Ich habe hier schon mehrmals so Warnschilder gesehen. Wie das dort‟, sagte Tobias und zeigte auf eins der Schilder. Dennis starrte mit aufgerissenen Augen auf das Schild. „Das heißt, die Gegend ist radioaktiv verseucht.‟ Die drei Freunde blickten sich mit aufgerissenen Augen an. Niemand brachte ein Wort hervor. Sie setzten sich zwischen die Trümmer auf eine Mauer und blickten stumm auf den Boden.

„Tja, nun hatten wir unser Abenteuer‟, meinte Dennis schließlich. Mehr dazu fiel ihm nicht mehr ein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert