Träume im Schaum
von Ruta Dreyer
Ich stelle mir vor, wie in der Jacke ein Kopf klebt, der nun überspült wird und sich an den Rändern des Metalls absetzt. Die Augen verschwimmen im dunklen Wasser und zersetzen sich, die Iris, die Pupille, einzelne Wimpern, die durch die trübe Flüssigkeit treiben. Durch die Ärmel zieht dünne Luft. Auf der Jacke sind braune Flecken, die sich im Schaumbad auflösen und einen Glauben durchweichen, der irgendwo zwischen den Fasern gelebt hat.
Ich lasse ihn ertrinken.
Das Laufband dreht sich. Ich stapele die nasse Jacke und Hose unter der Maschine und lasse die Sachen trocknen, von denen ich weiß, dass sie einem Jungen gehört haben. Der Stoff ist an einer Stelle leicht gerissen. Ich sehe den Jungen vor mir, wie er versuchte, über das Fensterbrett und durch die Metallöffnung zu klettern, um nach draußen zu springen. Dabei fielen die toten Blumen in den Vasen um. Ihre Köpfe liegen nun wie gespreizte Finger auf dem kalten Metall.
Als der Junge das Nachbarhochhaus erreicht hat, raubt ihm die bedrückende Kälte den Atem. Er war noch nie so spät draußen. Es gilt Nachtsperre. Sie treffen sich zu dritt und laufen mit geducktem Kopf an den Wänden vorbei. Man kann keine Fenster erkennen, nur graue Schiebetüren vor hohlen Räumen. Eine Vibration zieht durch den Boden, als würde Strom durch ihn fließen. Und Strom durch die Jungen, die Köpfe, den Nacken, hinein in die Haut und unter die Haut. Es ist das erste Mal, dass sie durch die Straßen laufen und Platz haben. So viel Platz, dass sie jeweils einige Meter zwischen sich lassen und sich trotzdem noch sehen können. Der Junge in der Mitte kann endlich den Rücken des anderen Jungen so lange von hinten betrachten, wie er will. Und seine Kopfform. Die Ohren. Die angewinkelten Ellenbogen. Ihm fällt auf, dass sie unterschiedliche Geschwindigkeiten besitzen, einen unterschiedlichen Rhythmus beim Atmen, beim Luftholen, bei der Bewegung. Es pulsiert in seinem Kopf. Er blickt nach oben, und zum ersten Mal sieht er Lichter am Himmel. Er fragt sich, wie die Menschen es geschafft haben, Stromkabel bis nach oben in den Himmel zu legen, und er ist überwältigt von der Unbesiegbarkeit, die überall zu herrschen scheint.
Seine Mutter liegt mit ausgestreckten Armen auf ihrer Matratze. Sie mag es nicht, die Arme anzuwinkeln oder sich gegenseitig berühren zu lassen. Sie fürchtet sich vor dem Kontakt mit ihr selbst. Die Bettdecke hat sie bis nach oben angezogen. Es ist dunkel im Zimmer, kein Licht rinnt durch das Stück Metall, das auf Schienen vor das Fenster gezogen wurde. Sie schmiegt sich hinein in die Sicherheit des Raums und lässt ihren Kopf Teil der Stille werden. Es dauert nicht lange, und sie ist eingeschlafen.
Die Vibration des Bodens wird immer stärker, und der Junge in der Mitte sieht den Rücken des anderen vor ihm auf- und abhüpfen. Er möchte ihn erreichen, so schnell sein, wie er, aber seine Knie zittern, und der Boden scheint sich zu bewegen. Auch das Brummen wird immer lauter. Er blickt nach oben, aber wo die Hochhäuser im Himmel enden, kann er nicht sagen. Wieso kann er nicht nach oben laufen, die Wände hinauf? Und hoch zu den schönen Lichtern da oben und sich an sie schmiegen und an ihnen aufwärmen?
Alles ist so gewaltig. Dass es Lichter gibt, in der Nacht, und dass es Luft gibt, zwischen ihren Körpern. So viel Luft wie sie wollen. Dass sie entscheiden können, wie schnell sie sich vor- und zurückbewegen. Dass sie versuchen können, sich gegenseitig einzuholen, auch wenn sie wissen, dass es nicht möglich ist.
Der erste Junge ist nun weit aus der Sicht der anderen. Er scheint nicht bemerkt zu haben, wie schnell er ist. Der letzte Junge fällt zurück. Irgendwann ist der mittlere Junge allein. Jede Wand sieht gleich aus. Die Vibration des Bodens ist nun mehr ein Zittern, und der Junge spürt ein Stechen in seinem Körper. Als er sich an die Wand des nächsten Hochhauses lehnt, ertönt ein Knall.
Es ist der Knall am 65. Februar. Zwischen den eingerahmten Monitoren am darauffolgenden Tag erscheint das Bild einer blassen Gestalt. Es ist ein Junge mit geöffneten Augen. Er starrt begierig in das Gesicht der Zuschauenden, als wäre er entgeistert oder verrückt oder als würde er etwas sagen wollen. Etwas berichten, was er gesehen oder gefühlt hat. So intensiv und so kurz. Die Mutter hat sich ein Kissen unter das Kinn geklemmt, und der Vater fährt ihr beruhigend mit der Hand den Rücken hinab. Es herrscht Stille zwischen ihnen. Die metallenen Jalousien werden nicht hochgefahren. Die Menschen harren in den Räumen aus und horchen auf das Schweigen der Stadt. Am 66. Februar findet man zwei andere tote Körper, die Körper zwei zehnjähriger Jungen, der eine fünfhundert Meter nördlich vom Fundort des mittleren Jungen entfernt, der andere sechshundert Meter südlich. Sie tragen nur dünne Kleidung, und ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Junge 3 hat lange und drahtige Adern, die über die dünne Haut und unter die hochgekrempelten Ärmel laufen. Junge 1 hat dunkle Augen und einen ernsten, großen Mund. Seine Stimme war tief.
Noch Monate später liegt auf dem Fensterbrett des Jungen 2 die umgekippte Blumenvase. Ein unteres Stück der metallenen Schiebetür ist aufgebrochen, und die toten Blumenköpfe scheinen sich dem Licht der Sonne entgegenzuneigen. Vor der Nacht haben sie Angst.
Die Wichtigkeit der Nachtsperre wird erneut betont. Es geht um Sicherheit und Bewahrung. Die Dunkelheit ist bedrohlich und die Stadt ein metallener Klotz. Gegen die nächtliche elektrische Konservation kommt kein Menschenleben an. Darum sind die wenigen Pflanzen auf den Straßen tot. Darum lebt die Stadt am Tag. Die Wichtigkeit des Lebens wird betont. Leben, leben, leben.
In den Fabriken hängen über den Türen kleine traurige Blumen. Ich versuche manchmal, Augen in ihnen zu finden und Kontakt mit ihnen aufzunehmen, aber entweder sie können mich nicht sehen, oder sie wollen mich nicht sehen. Vielleicht sind sie enttäuscht von mir.
Das Laufband dreht sich weiter. Ein Kopf fährt vorbei, und ich zerteile die Augäpfel in mehrere gleichgroße Stücke und fülle sie in einen kleinen Behälter ab. Meine Hände sind kalt.
Als ich nach Hause komme, riecht es ein wenig muffig in der Wohnung. Ich fahre mit den Augen die Möbel und Wände ab und lasse mich auf einen Stuhl fallen. In die anderen Räume gehe ich nicht, vor allem nicht in den Raum meines Sohns. Durch sein aufgebrochenes Fenster weht ein ständiger Luftzug durch die Wohnung, aber ich traue mich nicht, den Schaden reparieren zu lassen. Meine Arme lasse ich lose von meinem Körper hinabhängen, denn ich möchte nicht, dass sie und das, was sie tun, sich so anfühlt, als wäre es ein Teil von mir. Ich warte auf das Ende des Tags und die Nachtsperre. Es ist still. Das Schweigen des Raums erinnert mich an das Schweigen am 65. Februar. Ich habe keine Träume. Abends schieben sich metallene Flächen vor meine Fenster. An meinem Ärmel blieb Schaum hängen. Die Blasen zerplatzen nach und nach im spärlichen Licht meiner Taschenlampe.
Eine wirklich gute Geschichte, traumartig, surreal, aufweckend.