Berichte von der Insel – 5. Karnickeldichte
Eine Prosaminiatur von Walther
Wenn man die Fachklinik Borkum durch den vorderen Eingang an der Meeresseite verlässt und sich nach rechts wendet, spaziert man ca. 37 bis 60 Minuten durch die Dünen bis zum Strandcafé Seeblick. Dort ist der Weg zu Ende. Ich brauchte bei strammem Gehtempo dafür 37 Minuten. Mein Essenssitznachbar Jakob*, der später noch eine große Rolle spielen wird, eher 45 bis 50 Minuten; er ließ es gerne etwas geruhsamer angehen.
Manchmal übermannt mich einfach mein Ehrgeiz. Der Pullover und das T-Shirt waren danach durchgeschwitzt und Teil der Waschorgie. Nichts ist umsonst, allenfalls vergeblich.
Man kann, wenn man auf den Wegen bleiben will – was man wegen der geschützten Dünenlandschaft sollte –, nur entweder umdrehen, links zum Strand hinaus an die Wasserlinie oder rechts abbiegend ins Inselinnere weiterwandern. Ich ging nach rechts. Man hätte kurz darauf in Richtung Ostland abbiegen können. Ich ging ein bisschen weiter und bog danach in Richtung Borkum-Stadt ab, den Weg durch die Innendünen, der über einige Windungen zum Stadtzentrum führt.
Das machte die Spaziergänge zur Zwangsbetankung mit Meerluft – die Allergo- und Pneumologen lieben das, die geschädigten Lungen und Bronchien allerdings auch; man merkt davon jedoch erst so richtig etwas in Woche 3 der Rehamaßnahme, dem Peak-Flow-Meter sei Lob und Dank. (Apropos: Ich sollte das meine von der Apotheke abholen, mittlerweile sollte es geliefert worden sein. Notieren, fordere ich mich auf. Gesagt, getan!).
Die Reha-Klinik liegt direkt an der Küste, und ich hatte es durch freundliches Bitten und ein wenig Charmieren bei den Damen aus der Patientenverwaltung geschafft, ein Zimmer im 2. OG und mit Meerblick zu ergattern. Dadurch konnte ich jeden Morgen ein schönes Strandfoto schießen, mit der Innenbucht hinter der Landzunge mit der Seehundbucht, die ebenfalls strafbewehrt als Weltkulturerbe geschützt ist: Eintrittsgebühr: schlappe 1500 Euronen.
Aber eigentlich wollte ich etwas zur und über die Karnickeldichte erzählen. OK, dann machen wir das mal.
Wenn man, wie gesagt, durch die Dünen spaziert, kann man Naturereignisse erleben. Dafür ist allerdings Voraussetzung, dass man zum einen noch bzw. überhaupt etwas sieht – also Abwesenheit von Schneefall, Sturmböen usw. usf., denn die lieben Tierchen mögen diese Art von Wetter genauso wenig wie wir Menschen, die wir sowieso nur glauben, nicht Teil der Natur zu sein – und zum anderen das Fehlen vom Mitmenschen. Und: Es war zum Glück Ende Januar – also no-touri-time. Die lieben Tierchen mögen nämlich darüber hinaus keine Menschenaufläufe – ich übrigens auch nicht, da bin ich mit ihnen einig. Deswegen fahre ich nicht auf Kreuzfahrtschiffen als Inhalt einer menschengefüllten Sardinenbüchse mit und mache keine Stadturlaube. Das schont die Umwelt und meine Nerven. Malle und Ibiza gehören übrigens ebenfalls nicht zu meinen Favoriten.
Aber zurück zu Thema.
Ich marschierte am Sonntagnachmittag warm eigemümmelt in Richtung Kaffee Seeblick, die anderen in der Klinik waren entweder auf einer geführten Wanderung (auch nicht mein Ding, ehrlich gesagt) oder eben auf der faulen Haut (liegt mir auch nicht, aber gut, jedem das Seine). Es schien sogar die Sonne. Das tat sie durchaus selten. Kurz: Die Tierchen und ich hatten freie Bahn. Und beste Sicht.
Ich war keine 500 Meter vom Klinikeingang weg, als die ersten falschen Hasen über den Weg hoppelten. Sie kamen aus dem geschützten Bereich der Innendüne. Ein genauerer Blick ergab, dass die Düne links in Richtung Strand und Meer ein einziger Schweizer Käse aus Karnickelbaulöchern mit etwas Sand, Strandhafer, Flechten, Moos und einigen wenigen Sträucherstrunks war. Der anschließende Blick nach rechts ergab das gleiche Bild. Unter den auf dieser Seite dichten Sanddornhecken, die die Innendünenwand hockrochen und hinter einem Schutzzaun begannen, waren immer wieder Eingänge zu den unterirdischen Kaninchenbehausungen zu erkennen.
Ein paar Schritte weiter konnte ich eines der Feldknäuels dabei beobachten, wie es sich sehr lang machte und mit großem Vergnügen einen ganzen Bereich eine Sanddornasts sorgsam schälte. Die Burschen sind langgestreckt größer als man erwartet. Ihm schmeckte das anscheinend vorzüglich, denn ich konnte mich bis auf zwei Meter nähern und mit dem Smartphone Fotos knipsen und ein Video anfertigen. Dabei konnte ich, wie bei anderen Gelegenheiten auch, feststellen, dass die Karnickel nicht die Glubschaugen hatten, sozusagen als Kaninchen im Özil-Style bzw. Schilddrüsenüberfunktion durch die Lande hüpften, wie mir ein echter Insulaner an der Klinikrezeption erläutert hat, als ich ihn auf die Hopplerplage angesprochen habe. Patienten mit Nordseeinselerfahrungen meinten trocken, diese Plage gäbe auf allen Inseln und alle Kaninchen hätten die gleichen degenerativen Effekte. Der Insulaner hat damals ergänzt, „dass die Jägerschaft regelmäßig die Zahl der Kaninchen durch Bejagung reduziert, weil sonst auf der Insel bald nichts mehr wächst“.
Angesichts der Zahl der Löcher nachvollziehbar. Das müssen wenigstens sechsstellige Zahlen sein, wenn man die Kanincheneinwohnerschaft von Borkum hochrechnet. Das fallen die paar Menschen gar nicht ins Gewicht.
Die falschen Hasen – unsere Osterhäschen sind in Wahrheit mehr oder weniger violette Schoko-Karnickel – sind jedenfalls sehr possierlich und absolute Exhibitionisten, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. In meinem früheren Hennefer Büro waren in der Wiese an einem kleinen Abhang ebenfalls Kaninchenbauten en masse. Vor den Bürofenstern, wir waren im EG eingemietet, hatten diese sich immer ab Anfang März intensiv mit der Vermehrung beschäftigt. Die Dame vorne hatte dabei immer fröhlich weiter cool Grashalme gemümmelt.
Den Inselhopplern war es allerdings noch zu kalt für solche Übungen. Meine Foto- und Videostorys für meine zuhause gebliebene Liebste, die ich ihr per WhatsApp zuleitete, hätten wahrscheinlich um dieses Element bereichert ein ziemliches Hallo ausgelöst. Jedenfalls gab es tierischerseits keine Anregung, auf irgendwelche Kurschattengedanken oder ähnlich gelagerte Fortpflanzungsüberlegungen zu kommen – dem Himmel sei Lob, Preis und Dank.
Doch der Tag voller Abenteuer war noch nicht zu Ende. Als ich danach beschwingt weiterschlenderte, kam von rechts erst ein Goldfasan herangetrippelt, und kurz danach der zweite hinterhergetapert. Beides übrigens Hähne. Eine Fasanendame ward nicht gesehen.
Jedenfalls stolzierten die beiden gemächlich links einen kleinen Hügel hinauf, um dort nach Nahrung zu picken. Es schien ihnen völlig egal zu sein, dass ich ca. fünf Meter entfernt angehalten hatte, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Ich habe mich langsam und ruhig herangeschlichen, die beiden Hähne blieben bei ihrer unaufgeregten Bewegung hin und her auf dem Hügel herumpickend, so dass ich sie aus kurzer Distanz fotografieren und filmen konnte. Die nächste kleine WhatsApp-Story für die Dame des Herzens, dachte ich, zwar nicht so possierlich wie die Kaninchen, aber doch etwas Besonderes.
Ich habe auf meinem Rundgang noch zwei weitere Fasanen gesehen, die Karnickel habe ich gar nicht erst zu zählen angefangen. Wenn ich jetzt, aus der Distanz, ehrlich nachzähle, dann habe ich an diesem Nachmittag mehr Fasanen gesehen als in meinem ganzen Leben zuvor. Von Karnickeln ganz zu schweigen – wenn man die in Schokoladenform gnädig übersieht.
* Namen und Ortsangaben sind selbstverständlich verfremdet.