Sonntag

von Christine Schurr

Durch die Lamellen des Rollos fielen sanfte Sonnenstrahlen auf die helle Bettdecke. Laras nackter linker Arm hing über die Matratze hinaus, die blonden Härchen darauf schimmerten. Sie bewegte ihre Finger, drehte ihre Handinnenfläche nach unten und stellte wieder einmal fest, wie faszinierend eine Hand sein konnte.
Heute war die Hand leer, wurde nicht von der Davids aufgefangen. Sie blickte auf die Anzeige des Radioweckers. 12.30 Uhr. Vor sechs Stunden war sie erst von der Nachtschicht am Flughafen nach Hause gekommen. Reinigungskraft in Flugzeugen. (Es hörte sich spannender an, als es tatsächlich war). Unter Zeitdruck jeden einzelnen Sitz sauber wischen, die Sicherheitsgurte ordentlich zurechtrücken. Sie mochte den Geruch der Reinigungsmittel nicht. Aber die Atmosphäre am Flughafen war einzigartig und aufregend. Wie die Fluggäste musste auch das Personal durch die Sicherheitskontrolle. Manchmal schloss Lara dabei die Augen und stellte sich vor, statt der Putzutensilien einen Boarding-Pass in der Hand zu halten.

Sie schwang sich aus dem Bett und ging unter die Dusche. ‚Schon wieder ein Sonntag‘, dachte sie beim einseifen.
Ein Besuch bei ihrer Großmutter im Pflegeheim, einer Fremden.
Lara lief, ohne sich abgetrocknet zu haben, zurück ins Schlafzimmer und wartete insgeheim auf Davids Brabbeln, der ihr hinterhergelaufen kam, um ihre Wasserfußspuren mit Küchenpapier auszulöschen. Heute hatten die Abdrücke eine längere Lebensdauer. Und aus der Küche lockte sie kein Kaffeeduft, es gab keine Vorfreude auf einen gedeckten Frühstückstisch.

Mit seinem besten Freund auf dem Landweg nach Indien. Sie hatte gelacht gehabt, doch David war ernst geblieben.
„Ich habe es ihm versprochen“, hatte er gesagt.
Fünf Monate wollten sie unterwegs sein. Jetzt waren sie in einem Land, das man als Ausländer ohne einen einheimischen Begleiter gar nicht betreten durfte. Er war dort draußen in der Welt, während sie zu Hause Flugzeuge putzte.
Dabei brauchte eine Künstlerin doch neue Eindrücke. Sie starrte auf die gespannten, weißen Leinwände, die an der Wand lehnten. Wanderte mit ihrem Blick weiter auf die bunten Acrylbilder, keines davon war jünger als sechs Monate. War sie überhaupt noch eine Künstlerin? Oder Reinigungsfachkraft
Irgendwo fand sie noch Cornflakes, die ihren Geschmack schon längst verloren hatten. Dafür schüttete sie etwas Kakao in die Milch. Sie überlegte, ob es sich lohnte, ihrer Großmutter Blumen mitzubringen.

Die purpurroten Blüten des Alpenveilchens flatterten in Laras Fahrradkorb. Um 14.30 Uhr gab es Kaffee und Kuchen für die Bewohner im Gemeinschaftsraum. Lara blickte an der Vorderfront des Pflegeheims hoch und obwohl es in freundlichen Farben gestrichen war, empfand sie nichts Gutes.
„Ihre Großmutter kommt gleich!“
Die Altenpflegerinnen kannten Lara bereits. Das Schwierigste war immer, beim Anblick der Großmutter nicht zusammen zu zucken. Wie sie in den Saal geschoben wurde, ein Skelett mit Haut überzogen und weißen Haaren. Kein Wiedererkennen in den Augen der alten Frau. Lara, die sich darin erinnern musste, ihre Großmutter nicht zu siezen.
„Wie geht es dir?“
Lara könnte die Frage zwei, drei Mal stellen, und doch würde sie unbeantwortet bleiben. Aber die Farbe der Blumen gefiel der Großmutter. Lara freute sich wie ein Kind, eine Reaktion erhalten zu haben. Etwas aus der Außenwelt berührte ihre Großmutter doch noch.
Die Pflegerin stellte ein Stück Kuchen vor die Großmutter und schob die Spitze davon in Großmutters Mund.
„Schmeckt der Kuchen?“
‚War das etwa ein Nicken gewesen?‘
Doch als die Pflegerin fünf Minuten später wieder an den Tisch zurückkam, spuckte die Großmutter das Stück unzerkaut wieder aus. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überfiel Lara.
‚Nicht schon wieder.‘
Nachdem der Kaffeetisch aufgelöst war, schob Lara ihre Großmutter draußen spazieren. Das Gefühl der Lähmung wurde schwächer. Lara plapperte. Erzählte ihrer Ahnin von ihren Wochenerlebnissen. Sie schmückte jedes Detail aus, in der Hoffnung, dass es davon ein Schlüsselwort gab, das zu ihrer Großmutter vordrang.
Als sie zum Fluss kamen, suchte Lara die nächste Parkbank.
„Siehst du die Schwäne, Oma? Als ich noch klein war, haben wir oft die Enten gefüttert. Aber das weißt du nicht mehr. Ich glaube, ich möchte nicht so alt werden wie du. Lieber möchte ich sterben, bevor mein Gedächtnis mich verlässt.“
Sie machte eine kurze Pause.
„Möchtest du sterben, Oma?“
Lara sah in das Gesicht der alten Frau und schämte sich plötzlich. Sie wendete den Blick ab.
Die dünnen, mit unendlich vielen Altersflecken überzogenen Hände. Hände, die aus einem Leben erzählten. Lara sah genauer hin. Die Finger der Großmutter schmiegten sich an den Handballen, als müssten sie etwas bewahren. Lara öffnete vorsichtig die Finger. Ein Blütenblatt des Alpenveilchens kam darin zum Vorschein. Es war keine leere Hand.

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