Eulen und Lerchen

von Rosemai M. Schmidt

Ich bin eine Eule. Definitiv!
Mein Mann kann ein Lied davon singen und zwar eines in Moll, denn er ist eine Lerche.

Wenn er abends beginnt, in Richtung Bett zu schielen, fange ich an warmzulaufen. Und wenn ich morgens aufwache, höre ich ihn in der Küche herumklappern. Er hat dann oft schon zwei Stunden Büroarbeit hinter sich und pfeift sich ein fröhliches Liedchen, während ich wie ein Schafwandler ins Bad schlurfe, auf dem Klo fast einschlafe und dann mindestens zehn Minuten auf dem Hocker wankend vor mich hinstarre, blicklos, nichts wahrnehmend, bis sich langsam, langsam mein Tagesbewusstsein an die Oberfläche quält.
Irgendwelche Ansprachen beantworte ich in dieser Zeit höchstens mit „Mh!“ oder „Hä?“
Und wenn ich an die Zeit meines Berufslebens und als alleinerziehende Mutter zurückdenke, kriege ich nachträglich noch eine Gänsehaut. Wie ich es ausgehalten habe, jahrelang zwischen 5 und 6 Uhr aufzustehen, ist mir heute rätselhaft. Aber man vergisst vieles im Lauf der Zeit.

Unvergessen jedoch sind für mich, wie für meine Geschwister, die Sonntage unserer Kindheit. Damals ging man 6 Tage die Woche zur Schule. Es gab nur einen freien Tag, und das war der Sonntag. Dass man unter der Woche früh aufstand, war selbstverständlich. Man wollte ja nicht zu spät zur Schule kommen. Was für ein Genuss, sonntags ausschlafen zu dürfen und nichts zu müssen. Oh ja! Vorausgesetzt, man darf.
Wir durften nicht, weil mein Vater – man ahnt es schon – eine Lerche war. Er war ein ausgesprochener Familienmensch, und das Höchste war für ihn, seine Familie um sich zu haben, wann immer es möglich war. Abends und morgens war das ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen, denn, und auch das wird nicht überraschen, meine Mutter war – eine Eule. Und wir waren in einem Alter, in dem man abends nicht ins Bett findet und morgens nicht heraus.
Der einzige mit dem Gegenrhythmus war mein Vater.
Aber – und das war zur damaligen Zeit nichts Außergewöhnliches – er war ja der Herr im Haus. Und dieser hatte das Recht, die Regeln vorzugeben. Zwar begann dieses Dogma damals bereits leicht zu wanken, denn seine Kinder wussten schon, was antiautoritäre Erziehung war, und der Zweifel an verkrusteten Normen war gesät. Aber an der sonntäglichen Frühstückstischregel war nicht zu rütteln.

Und so quälten wir uns jeden Sonntagmorgen aus dem Bett und zwar früh. Meist zwischen 7 und halb 8. Man denke jetzt nicht, dass es gestattet war, in Schlafanzug und Bademantel beim sonntäglichen Frühstück zu sitzen. Weit gefehlt! Gewaschen, anständig gekleidet und frisiert. Ob wir um die Zeit schon Hunger hatten oder nicht, stand nicht zur Diskussion. Es war Sonntag, der einzige Tag, an dem ein gemeinsames Familienfrühstück möglich war. Punkt!
Dass mein Vater keine Lust hatte, zwei Stunden lang alleine leise durch eine Wohnung mit schlafenden Eulen zu schleichen, durfte man denken, aber nicht laut sagen.
Damals lernte ich, mit geschlossenen Augen zu essen. Ich konnte halb schlafen und gleichzeitig kauen.
Jetzt könnte jemand einwenden, dass dadurch ja der Rest des Sonntags verlängert wurde und viel Raum für Hobbys oder Nichtstun blieb.
Nicht doch!

Wenn es etwas gab, was mein Vater mindestens genauso liebte wie das gemeinsame Frühstück am Sonntag, waren es sonntägliche Ausflüge en famille. Und in der Regel ereilte uns während des Frühstücks die frohe Botschaft des Zieles für den noch jungfräulichen Tag.
Unsere Begeisterung war eher marginal, wenngleich wir auf diese Weise unsere Heimat nach und nach gut kennenlernten, ein Effekt, den man erst im reiferen Alter zu schätzen lernt. So erkundeten wir nach und nach die Schwäbische Alb, den Schwarzwald und die diversen Täler.
Das Dumme an den Wanderungen war nur, dass wir sie nicht machen wollten, sondern mussten. Und das ist fatal.

Eins der ersten Dinge, die ich ausgiebig tat, als ich nicht mehr zu Hause wohnte, war, sonntags auszuschlafen. Das war herrlich. Und mein damaliger Mann war – heureka! – auch eine Eule.
Allerdings dauerte dieses Luxusleben nicht lange.
Nach einem dreiviertel Jahr sorgte jemand dafür, dass ich mich nach den Sonntagen meiner Kindheit zurücksehnte, als ich erst zwischen 7 und 8 Uhr aufstehen musste: Mein erstes Kind.
Und als dieses durchschlief, kam das zweite. Ich fragte mich oft, ob da Eulen oder Lerchen heranwuchsen.
Als sie in der Pubertät waren, wusste ich es: Sie waren Eulen. Beide!

Und da ich die Herrin im Haus war, ich war inzwischen alleinerziehend, schrieb diesmal ich die Regeln, und die wurden einstimmig angenommen:
Sonntag morgens muss niemand nichts. Jeder darf aufstehen, wann er will, essen oder nicht essen, was und wann er möchte, und jeder darf so lange im Schlafanzug herumgammeln, wie er will. Und wenn wir Lust haben, frühstücken wir zusammen und unternehmen etwas. Aber nicht, weil es jemand befiehlt, sondern weil wir Freude daran haben, zusammen zu sein und miteinander zu teilen, was uns bewegt.

Und heute?
Es gibt einen Tag in der Woche, an dem man nichts muss und aufwachen darf, wann man eben aufwacht. Und wenn man, sofern man nicht alleine lebt, ein Ehebett bevorzugt, bekommt man das Erwachen des Partners normalerweise mit. Und selbst eine Lerche findet Zweisamkeit am späteren Morgen schön.
Heute ist der Sonntag der Tag des entspannten Miteinanders. Wir stehen gemeinsam auf, ganz relaxt, frühstücken zusammen und nehmen uns etwas vor für den vor uns liegenden Tag. Meist wandern wir über unsere geliebte schwäbische Alb oder in einem der vielen Täler. Wir fahren auch mal in den Schwarzwald, und im Herbst gehen wir gerne Pilze suchen.
Erst letzten Sonntag haben wir unglaublich viele Pilze gefunden. Parasole, wunderbare Speisepilze, die man wie Schnitzel panieren kann, wobei sie besser schmecken als diese.
Und ich muss nicht fürchten, mich daran zu vergiften, weil ich sie kenne. Ich habe auf vielen Wanderungen gelernt, was es für Pilze gibt, wie sie heißen, welche man essen kann und welche nicht. Mein Vater hat es uns beigebracht, ebenso wie die Namen von Pflanzen, oder den Gesang der Vögel, und wir Kinder wissen alle drei, wie man ein Feuer macht, und dass man die meisten Dinge reparieren kann und nicht wegwerfen muss.

Wenn ich heute auf die Sonntage meiner Kindheit zurückblicke, tue ich es lächelnd.

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