Allerweltenheimweh
Allerweltenheimweh
von Anette Dodt
„… so ist der Schmerz für alles Dichterische geradezu unabdingbar …“.
Else hält, irritiert von ihren eigenen Worten, inne, und stürmt zur Tür hinaus.
„Petrus, wo bist Du? Mein Messias, hast Du mich verlassen?“
Die beiden Männer, denen Else soeben noch ihre Ansichten vorgetragen hat, als hinge ihr Überleben davon ab, nehmen ungerührt den Gesprächsfaden da wieder auf, wo er ihnen zuvor durch Elses Litanei entrissen worden war.
Man ist ihre Ausbrüche gewohnt. Die Ehefrau des erfolgreichen Arztes gilt als hysterisch, nicht wenige halten sie für verrückt. Seit sie sich in der Dichtkunst versucht, erscheint sie exzentrischer denn je. Waren ihre Zeichnungen schon absonderlich, so wirkt ihre Poesie wie verdrehten Kinderträumen entnommen. Neue Worte bildet sie und nie zuvor gehörte Reime. Ihre Freunde bezeichnet sie mit Namen, von denen kaum jemand zu sagen vermag, ob sie ihre Träger liebkosen oder verspotten.
In ganz Berlin weiß man, wer sie ist. Mit ihrer auffälligen Erscheinung sorgt Else dafür, dass sie keinesfalls übersehen wird. Fremdartig wie aus einem unentdeckten, fernen Land wirken ihre Überwürfe, deren Saum oft über ihre Schuhe hinaus ragt. So verwischt sie bereits beim Vorangehen ihre Spuren. Grotesk könnte man ihre Aufmachung nennen, wenn nicht der Kopf über dem Hals aus dem Kostüm hervorragte. Umgeben von dunklem weichem Haar verlangen die eher rohen Gesichtszüge nach ungeteilter Aufmerksamkeit. Die Miene ist eindringlich, melancholisch, voller Kraft und Willen.
Niemand ahnt, dass Else Lasker-Schüler hundert Jahre später von vielen, auch Kritikern, als die größte deutschsprachige Schriftstellerin angesehen werden wird. Sie selbst wäre wohl einverstanden damit, dass sie zum Kult geworden ist, vielleicht nicht erfreut, aber doch höchst einverstanden.
Jeder Eindruck, den die junge Dichterin von sich preisgibt, ist gewollt, nichts bleibt dem Zufall überlassen, auch nicht bei der Geburtstagsfeier im Hause Julius Hart. Ständig ist Else sich ihrer selbst bewusst. Jeder Blick, jedes Wort zielt auf Wirkung und Ausdruck. Längst ist die natürliche, echte Else ihr entflohen. Sie muss sich mit den Kunstwerken begnügen, die sie aus sich gemacht hat. Schlichte Worte oder Bleistiftstriche, Gesten oder Rührungen sind geschmolzen im Schmiedefeuer der von ihr geformten Wirklichkeit ihrer selbst. Keiner der Dichterkollegen ahnt von ihrem Hunger nach Ursprünglichem und Wahrem. Allein ist sie in ihrem Schmerz über das auf ewig verlorene Echte.
„Petrus, wo bist du?“
Sie muss bei ihm sein, dem göttlichen Hoffnungsbringer, der sie retten kann und wird. Wie so oft steht er bei den Bäumen ins stumme Gespräch vertieft mit dem Blau des Himmels. Sie tritt an ihn heran, voller Stolz und Demut flüstert sie: „Petrus, ich bin es!“
Peter Hille wendet sich ihr zu: „Wir sollten hier nicht sein, vielmehr unterwegs von Stern zu Stern.“
„Wahrhaftig, nur im Vorwärtsschreiten finden wir nach Hause“, pflichtet Else ihm bei und bittet: „Warte, ich hole meinen Umhang.“
Schon eilt sie zum Haus zurück. Ihr Gewand verfängt sich im Ginsterstrauch, doch sie reißt sich los. Hille steht reglos da in seinem zerschlissenen Anzug, dem die Weste abhanden gekommen ist, den Blick gegen den Himmel erhoben. Er wartet nicht, Warten ist nicht seine Sache. Aber er bleibt mit seinen löchrigen Sohlen an seinem Platz stehen, Bleiben kann und wird er, wenn auch nie für lange.
Else will nur schnell nach ihrem purpurfarbenen Umhang greifen, den sie bei ihrer Ankunft mit geübter Hand auf den schiefergrauen Sessel drapiert hatte. Doch ihr Vorhaben wird gestört durch die Szene, die sich von höhnischem Gelächter begleitet im Salon abspielt.
Margarete Beutler hat sich eine gemusterte Sofadecke über die Schulter gelegt und eine Feder ins Haar gesteckt. Mit ihrer linken Hand malt sie pathetisch Gesten in die Luft, ihre Rechte hat die Nase von Heinrich Houben gegriffen, der gebückt mit leidendem Blick hinter ihr her schleicht. Man spielt Scharade. Offenbar weiß jeder hier, was dieses Bild meinen soll, aber keiner löst das Rätsel, auf dass man sich noch eine Weile über das tolle Treiben auf der Spielbühne amüsieren kann.
Else macht dem ein Ende und ruft in den Spott hinein: „Das bin ich, wie ich meinen Mann Berthold an der Nase herumführe.“
Statt mit dem üblichen Applaus wird Else mit betretener Stille bedacht.
Rasch tritt Ludwig Jacobowski vor und macht einen Vorschlag zur Güte: „Else, Liebste, Sie sehen, wir treiben hier Schabernack, und natürlich durften und dürfen Sie hierbei nicht fehlen. Was meinen Sie“, sein Blick schweift in die Runde, „lassen wir Else unser nächstes Rätsel stellen?“
Zustimmendes, wenn auch verlegenes Gemurmel ist zu hören.
„Ihnen fällt gewiss etwas Geistreiches ein?“ richtet er sich an Else.
Die ergreift die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren, antwortet knapp mit „Selbstverständlich!“, bedeutet der Gesellschaft sich einen Moment zu gedulden, verschwindet nach draußen und kommt wenig später mit Peter Hille an der Hand zurück. Ihn stellt sie in die Mitte der Spieler und verkündet: „Das ist mein Bild. Nun raten Sie!“
„Moment, Sie müssen zuvor noch die Lösung notieren, damit alles mit rechten Dingen zugehen mag“, unterbricht Dr. Steiner.
Else tritt an das Pult, notiert verdeckt auf einem bereitgelegten Zettel die Worte „Der wahre Dichter“ und dreht das Papier um.
Peter Hille steht währenddessen genauso da, wie er bei den Bäumen stand, einzelne mit Bleistift bearbeitete Blätter lugen aus den Taschen seines Gehrocks hervor, sein Blick ist in die Weite gerichtet. Ausnahmslos alle am Spiel Beteiligten erkennen Hille als wahren Dichter an, auch wenn mancher bisher nur von ihm gehört hat. Aber werden sie den gesuchten Begriff erraten?
Zu diesem Zeitgenossen gibt es wahrhaftig viel zu sagen. Auch seine Neider wissen: Alles an Peter Hille ist echt, seine Worte, seine Erscheinung, sein Stil, seine Attitüde. Wonach mancher im Kreis vergebens strebt, ist ihm vollkommen zu eigen. Er ist stets ganz unverwechselbar er selbst. Er ahmt nicht nach, sondern wird nachgeahmt. Er macht keine Pläne und entzieht sich jedem Verplanen. Er konkurriert nicht, er übertrifft. Er scheint nicht von dieser Welt zu sein und ist doch ganz im Hier und Heute.
So viel Tragik auch in seinem Lebenslauf liegen mag, so wird ihn keiner zur Recht als tragisch, erst recht nicht als komisch bezeichnen dürfen. Man kann demnach gespannt sein, wie Elses Bild betitelt werden wird.
Des Rätsels Lösung liegt auf dem Schreibpult. Schon werden munter Vorschläge zur Deutung des Bildes in den Raum geworfen. „Lebenskünstler“ – „Sozialist“ – „Freigeist“ – „Hungerleider“ – „Wanderer zwischen den Welten“ – „Kabarettist“ – „Vollblut“ – „Habenichts“ – „Heiliger“ – „Strolch“ – „Gottestrunkener“ – „Bohemien“ – „Verschollener“ – „Gespenst“ – „Gelehrter“ – „Geschmähter“, solche und andere Titel sinken Peter Hille zu Füßen.
Zu all diesem schüttelt Else Lasker-Schüler manchmal nachdenklich, dann wieder erschrocken den Kopf.
Hille zieht indessen ein eng beschriebenes Blatt aus seiner Anzugtasche, zwei weitere fallen dabei zu Boden. Dann fängt er unvermittelt an zu lesen: „Der Schmerz hat so etwas Heimatliches, näher zu uns Führendes…“
„Petrus, Du bist das Rätsel und musst schweigen“, unterbricht Else.
„Schmerz“, wiederholt der Gerügte mit Nachdruck, hebt die Zettel vom Boden auf, schiebt sie hinter den, von dem er gerade gelesen hat, steckt aber nichts in die Taschen zurück, sondern wartet geduldig auf die Erlaubnis, mit seiner Lesung fortzufahren.
„Sie müssen Hilfestellung geben“, wird Else zwischenzeitlich aufgefordert.
„Wenn dem so ist“, lässt die Gebetene sich darauf ein, „dann rate ich Ihnen, schlicht, klar und deutlich zu denken.“
Nach einem Moment der Stille ist aus einem der Sessel zu hören: „Hille hat sich einmal selbst als `Meerwunder an Erfolglosigkeit` bezeichnet. Ist das des Rätsels Lösung?“
„Nein, gewiss nicht.“
Else kann den Lösungsversuch erst Herwarth Walden – von Geburt heißt er eigentlich Georg Lewin – zuordnen, als dieser hervortritt und erneut einen Vorschlag macht.
Lasker-Schüler ahnt nicht, dass sie nach der Scheidung von Lasker eben diesen Walden heiraten wird. Sie wird ihm alle Liebe geben, zu der sie fähig ist, aber er wird sie verlassen, so wie sie ihren Mann jetzt verlässt.
Walden macht einen neuen Versuch: „Wie steht es mit `Petrus, der Fels‘? Sie, Else, verwehren sich wohl gegen seine Bezeichnung als Liebhaber oder Vater Ihres Kindes, aber mit dem Titel `Petrus, der Fels‘ geben Sie ihm gern die Ehre, sich zu ihm als Mentor oder anderweitigen Halt zu bekennen.“
Else ist nach dieser Rede nah daran, die Fassung zu verlieren. Walden sieht es mit Sorge, hatte er doch nur eine freimütige Regung und keinen Sturm hervorrufen wollen. Petrus aber tritt vor Else hin, entzieht sie so den Blicken derer, die nach ihrer Reaktion gieren, stopft seine Manuskripte nun doch in die Tasche und langt zu dem Zettel auf dem Schreibpult hin. Alle, die sich vorstellen, er werde nun des Rätsels Lösung bekanntgeben, irren. Peter Hille, der einzig wahre Dichter in der ganzen Versammlung zerknüllt stattdessen das kleine Papier, presst es sich in den Mund und schluckt es bestaunt von allen hinunter.
Wortlos schreitet das Dichterpaar in Richtung Landstraße. Viel später, als ihrer beider Atem ruhig dahinfließt, ergreift Else Lasker-Schüler das Wort: „Ist es wahr, dass der Schmerz unabdingbar für das Dichterische ist?“
Peter Hille hält inne: „Schmerz ist nicht genug, Tino, denn er ist immer nur deiner, von Anfang bis Ende. Nur das Leid kann Wesentliches erschaffen. So oft dir auch Leid zugefügt wird“, der echte, wahre Dichter streicht Else ungeschickt eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, „es wird nie ganz ein Teil von dir, kann nicht heilen. Hier liegt das Werden verborgen.“
Else erscheint es dienlich zu sprechen: „Ich verstehe es nicht, doch ich glaube dir.“
Sie gehen eine Weile weiter. Irgendwann später flüstert Elses Prophet: „Du wirst verstehen.“
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