Bunte Torten, bunte Blätter
Bunte Torten, bunte Blätter
von Anne Lathan
Wie in Zeitlupe verfolgten meine Augen, wie die edle, unberührte, weiße Torte von der Tischkante segelte, mit einem ekligen Geräusch auf dem Küchenboden aufschlug und in tausend matschige Einzelteile zerplatze. Nur die elegant geschwungenen Ziffern der aus Kerzenwachs geformten Achtzehn blieben heil und thronten auf dem Gewühl aus Zuckerguss, Buttercreme und Teig, gleich einem König über seinem gefallenen Reich.
Eine tiefe Genugtuung erfüllte mich, als ich in die entsetzten Augen meiner Eltern sah, welche zweifellos Stunden damit verbracht hatten, sie zu backen, in denen nur eine einzige Frage zu lesen war: „Warum? Warum zum Teufel hast du deine Geburtstagstorte herunter geschmissen?“
Ich zuckte die Achseln und antwortete ihnen laut: “Das ist nicht meine Geburtstagstorte. Die sieht nicht aus wie sonst immer.“
Mein Vater schaute wild von der zerstörten Torte zu mir, dann wieder zur Torte, dann wieder zu mir.
„Morgen ist doch auch kein Tag wie sonst immer“, setzte er an, „du wirst morgen erwachsen!“
Ich schüttelte wütend den Kopf.
“Das ist nicht meine Geburtstagstorte!“, beharrte ich.
Und plötzlich fing ich an zu schreien: „ Meine Torte ist kleiner und schöner, viel viel bunter, und überall sind rote und grüne und blaue Farbkleckse! DAS ist meine Torte!“
Ich deutete verächtlich auf den Boden: „Nicht die da.“
Mutter und Vater wechselten verwirrte Blicke. Dann sagte meine Mutter in ihrer freundlichsten Stimme: „Wir dachten deine alte Torte wäre dir mittlerweile zu kindlich geworden, Schatz. Wir …“
„Tja falsch gedacht!“, unterbrach ich sie und donnerte meine Hand mit aller Kraft auf den Tisch. Ich fischte die Achtzehn aus der zerstörten Torte, warf sie in den Müll, rannte den Flur hinunter, raus aus dem Haus und in die kühle Herbstluft hinein.
Ziellos lief ich durch die Straßen und achtete nicht darauf, wohin meine Füße mich trugen. Ich lief und lief und lief, immer weiter, vorbei an schmutzigen grauen Hochhäusern, Plattenbauten, süßen kleinen Vorstadthäuschen, Villen, einer Einkaufsallee, bis mir der Wind den Klang von hellem Kindergelächter entgegen trug. Meine Füße folgten dem Lachen wie von selbst, bis ich vor einem belebten Spielplatz stand.
Kinder riefen fröhlich durcheinander, tollten im Sand herum, schaukelten, rutschten und spielten Fangen im Laub. Ich setze mich etwas abseits auf eine Bank und beobachtete sie. Ihre Bäckchen glühten so rot wie die herunterrieselnden Herbstblätter, die sie zu fangen versuchten. Ihre kleinen Gesichter erhellte ein breites Lächeln. Ihre Augen lebten im Hier und Jetzt. Sie konzentrierten sich nur darauf diese Blätter zu fangen, dachten nicht an morgen oder übermorgen oder daran, was in einem Jahr sein würde.
Mein Blick huschte zu einer Gruppe von Erwachsenen. Sie schauten ihren Kindern beim Spielen zu. Gelangweilt standen sie dort. Steif und finster in ihren langen dunklen Mänteln, ihren Panzern aus Lebenserfahrung. Die Gesichter bleich und kalt wie der Asphalt unter ihnen. Elegant und farblos wie diese verdammte Torte. Plötzlich landete ein einsames Blättchen auf der Schulter eines Mannes. Er bemerkte es und schnippte es weg.
Ich verbarg die Hände vorm Gesicht. Nach einer Weile bemerkte ich, dass mich jemand an tippte. Ein kleines Mädchen mit zerzausten, blonden Engels-Löckchen zupfte mich am Ärmel.
„Warum siehst du denn so traurig aus?“, fragte sie mit großen blauen Augen.
Ich betrachtete sie verwundert.
“Ach, weißt du“, antwortete ich, „das ist nicht so leicht zu erklären.“
Sie runzelte die Stirn und schaute mich verwirrt an.
„Ich glaube, ich will einfach wieder ein bisschen so sein wie du“, erklärte ich ihr.
Das verstand sie nicht. Doch sie lächelte und ihre winzige Hand umgriff die Meine.
„Komm doch mit spielen“, rief sie, „dann bist du nicht mehr so traurig.“
Sie zog mich mit sich zu ihren Freunden. Zögernd folgte ich ihr. Die Erwachsenen warfen mir seltsame Blicke zu, als ich mich im Sand niederließ und zaghaft einen kleinen Turm baute.
Die Kinder sprangen indes immer und immer wieder in einen riesigen Laubhaufen aus roten, braunen und gelben Blättern. Sie riefen mir zu, ich solle das unbedingt auch mal probieren, und versuchten spielerisch, mich mit sich zu zerren.
Der Mann, der zuvor das Blatt weggeschnippt hatte, ging plötzlich dazwischen und sagte: „Kinder, lasst das Mädchen doch in Ruhe. So was macht man nicht mehr, wenn man so alt ist wie sie.“
Ich hielt einen Moment inne, bevor ich begriff, dass er mich gemeint hatte. Ha! Genauso wie man keine kleine, bunte Torte mehr essen durfte, weil man dafür zu alt war?
Kurzerhand stand ich auf. Die Kinder feuerten mich an, als ich Anlauf nahm, rannte und sprang. Für einen Augenblick sauste ich durch die Luft, und im nächsten landete ich im weichen Laub.
Die Kinder jubelten, der Mann guckte blöd, ich lachte.
Danach ignorierte ich die Erwachsenen vollkommen, und wir sprangen immer und immer wieder in unseren Blätterhaufen. Ich jauchzte und hüpfte und tollte im Laub herum, versuchte Blätter aus der Luft zu fangen, und irgendwann, ich hatte die Zeit vergessen – endlich hatte ich die Zeit mal vergessen – neigte sich die Sonne zur Erde, und der Tag versank im immer dunkler werdenden Himmel. Die Kinder verabschiedeten sich und verließen an der Hand ihrer Eltern den Spielplatz.
Auch ich machte mich auf den Heimweg. Doch vorher ging ich nochmal beim Supermarkt vorbei. Zuhause sagte ich meinen Eltern, dass ich wieder da war und ging in die Küche.
Die Torte lag immer noch zermatscht auf dem Boden. Ich wusste, dass meine Eltern von mir verlangten, sie zu beseitigen, doch das würde ich später erledigen. Das hatte Zeit.
Ich packte erstmal meine Einkäufe aus und begann in aller Ruhe meine kleine, alte und ganz und gar kindliche Geburtstagstorte zu backen. Sie sollte ganz bunt werden. So bunt wie früher.
So bunt wie die Blätter, in denen ich heute spielte.
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