Queere Lyrik 2020 - So gerade / nicht, herausgegeben von Stefan Hölscher, Geest-Verlag, Vechta 2020

Sammlung Queerer Lyrik 2020 von Hrsg. Stefan Hölscher – Rezension

von Walther

Queere Lyrik 2020 – So gerade / nicht, herausgegeben von Stefan Hölscher, Geest-Verlag, Vechta 2020, ISBN 978-3-86685-766-7, Taschenbuch, 126 S., 12 Euro

Man gestatte dem Rezensenten eine kleine Vorbemerkung: Es gibt per se nur gute oder weniger gute Lyrik. Die geschlechtliche Orientierung ist kein tragendes Qualitätsmerkmal – für Poesie nicht und für jede andere Kunst auch nicht.
Es stellt sich in der Tat die Frage, warum Gedichte und Dichter so schlecht publiziert und rezipiert, also gelesen, werden. Die Antwort ist komplex. Ihre Debatte würde den Rahmen dieser Buchbesprechung sprengen, sie regelrecht majorisieren. Der Autor dieser Rezension hat sich dazu bereits ausführlich geäußert. Wer mag, kann diesen Essay nachlesen: Der Dichtung eine Bresche schlagen – Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört

Dr. Stefan Hölscher ist selbst ein renommierter Autor. Er engagiert sich im Projekt QueerL, dem Netzwerk queerer Lyriker*innen. Es gibt dazu einen Youtube V-Log, der auf Instagram präsent ist. Das Netzwerk soll LGBTIQ Community bekanntmachen. Im Netfinder finden sich zwei Artikel dazu, in denen auch der hier vorliegende Band angekündigt wird. Der engagierte Verleger Alfred Büngen vom Geest-Verlag, der bereits weitere Bänder Hölschers herausgegeben hat, war bereit, diese Vorhaben zu verlegen.
Der Herausgeber beklagt sich, dass es anscheinend bisher nicht gelungen ist, alle führenden Protagonisten queerer Poesie zu versammeln. Es ist eine bekannte Erfahrung, dass es schon immer leichter war, eine Pressure Group gegen etwas als für etwas zu formieren. LGBTIQ als akzeptierte und gleichberechtigte Form sexueller Ausrichtung ist weitgehend in unserer Gesellschaft durch. Künstler*innen sind, und so fassen sie sich auf, Wettbewerber, gerne auch bis aufs Blut und ohne jede Rücksicht. Nirgends ist die Intriganz weiterverbreitet als in der Kunst selbst. Es wundert also nicht, dass die gestellte Aufgabe schwer ist und einen sehr langen Atem braucht. Das wird ist erst ändern, wenn QueerL ein echter Resonanzraum ist, der ausstrahlt und zwar bis in die Gesellschaft hinein. Dann bringt es dem einzelnen Künstler etwas, sich einzubringen. Vorher sind nur die Unentwegten aktiv. Dass sich so die Katze in den Schwanz beißt, liegt auf der Hand, ist aber, wie es ist.

Brauchen wir queere Lyrik? Natürlich! Aber vor allem brauchen wir gute. Nur die wirkt. Schlechte – oder schlecht lektorierte – stößt ab. Von den im Band enthaltenen 16 Autor*innen ragen vier heraus. Da ist einmal crauss. crauss als Poet ist der Hammer. Das hat aber genau nichts mit seiner sexuellen Neigung zu tun, sondern vielmehr damit, dass er einer der wenigen ist, die es geschafft haben, eine ganz individuelle Sprachmelodie zu entwickeln. Er ist einer der unterschätzen Poeten der Gegenwart, zweifelsohne. Vier seiner fünf Beiträge sind überdurchschnittlich. Wer ihn bisher nicht kennt: Kaufen und lesen. Crauss ist für jeden Poesieverrückten ein Muss.
Odile Kennel: Dass der Rezensent diese Lyrikerin kennenlernen durfte, dafür legt er sich vor Herausgeber und Verleger in den Staub. Toll. Der Band, aus dem die Werke stammen, wird bestellt und besprochen – versprochen.
Christoph Klimke und Elizaveta Kuryanovich: Sehr schöne Texte, überzeugend. Auch diese Lyrik besteht und ragt heraus. Man würde sich wünschen, mehr davon gehört zu haben. Wenn noch Zeit gefunden werden kann, wird der Rezensent sich Bände dieser beiden Sammlungsbeiträger anschauen und sie vorstellen. Bei Peter Salomon überzeugt nur der Text „Das Los der alten bürgerlichen Schwulen“.
Großes Kino ist die Behandlung der Nöte eines Menschen, der im falschen Körper lebt und eine Geschlechtsumwandlung anstrebt. Zoltán Lesi und Mátyás Dunajcsik haben mit ihrem Körperchor einen Dialog geschaffen, der zu Tränen rührt und in seiner Fulminanz es vermag, die Kämpfe, denen einen solcher Mensch innerlich und äußerlich ausgesetzt ist, nachfühlbar, erahnbar zu machen. Man kann sich kaum vorstellen, wie sich Betroffenen in Gesellschaften fühlen, in denen Homophobie herrscht und solche von der sogenannten Norm abweichenden Menschen ausgesondert und massiv unter Druck gesetzt werden, so dass am Ende nur noch die Flucht in eine Umgebung bleibt, die wenigstens etwas Toleranz bereithält.

Die anderen Autor*innen haben den Besprechenden aus unterschiedlichen Gründen nicht vom Hocker gehauen. Sie hier auszuführen, würden den Rahmen dieser Betrachtung sprengen. Das Buch bleibt also aus vielerlei Gründen eine zwiespältige Sache, die dem Herausgeber klar gewesen sein muss, als er seine Einführung verfasste. Das heißt nicht, dass der Band vergebene Liebesmüh wäre. Er ist es wegen der genannten Autor*innen wert, erworben und gelesen zu werden. Die Frage, ob es diese Sammlung mit dieser Ausrichtung bedurfte, kann der Band allerdings nicht mit einem lauten „Ja“ beantworten. Die Gründe dafür sind auch den ausgewählten Texten zuzuschreiben, die eben nicht überzeugen, sondern nur queer sind, aber nicht wirklich gut.

Netfinder:
QueerL:
https://www.queer.de/detail.php?article_id=34346
https://www.maenner.media/kultur/buch/nachgefragt-netzwerk-queere-lyrik-queerL/
https://www.youtube.com/channel/UCKg2P8uepg4Nhuem106GYFg
Geest-Verlag: http://geest-verlag.de/
Der Lyrik eine Bresche (Stoffsammlung): http://www.zugetextet.com/?s=Der+Lyrik+eine+Bresche 

One thought on “Sammlung Queerer Lyrik 2020 von Hrsg. Stefan Hölscher – Rezension

  1. Warum ich Walther widersprechen muss…
    Vorangestellt sei, dass ich Walther für sein dichterisches Schaffen bewundere und dass mein lyrischer Sachverstand durchaus schnell an seine Grenzen stößt. Zudem muss ich gestehen, dass ich den Band (noch) nicht gelesen habe. Dennoch möchte ich einige Aussagen in dieser Form nicht unkommentiert lassen. Der Diskurs belebt, das gilt für den Makrokosmos Gesellschaft wie für den Mikrokosmos Redaktion.
    Prinzipiell finde ich es schwierig, gute und schlechte Lyrik zu kategorisieren. In der Formlyrik gibt es Regeln, die diese Einteilung ermöglichen. Kommen wir in ungebundene Formate, wird das Raster schnell aufgesprengt und müsste durch die Kategorien „gefallende“ und „nicht gefallende“ Lyrik ersetzt werden. Denn wo keine Regeln herrschen, kann kein Maßstab angesetzt werden, was gut und was schlecht ist. Zudem hat Lyrik, meiner Meinung nach, gerade in der Rezeption immer einen hochgradig subjektiven Charakter.
    Die Kernaussage kann ich nachvollziehen und unterschreiben. Sexuelle Orientierungen sowie sämtliche Facetten der (De)Konstruktion von Geschlechtlichkeit sollten keinen Einfluss auf die Bewertung des lyrischen Schaffens von Individuen oder Kollektiven haben. Dennoch sind sie als Eckdaten für die Rezeption eines Lyrikbandes der eben diese Thematik fokussiert durchaus heranzuziehen. Das hat der Rezensent getan, wie in den Beispielbesprechungen deutlich wird.
    Problematisch finde ich, das sei mir bitte zugestanden, hier das Spannungsfeld des „Für“ und „Gegen“ zu eröffnen, vor allem, weil gerade dieses den Umfang einer Buchbesprechung erheblich überschreitet. Deswegen will ich es erstmal auch nicht weiter vertiefen, würde mich an dieser Stelle aber freuen, von den beteiligten AutorInnen zu erfahren, ob es sich hier um einen Beitrag zu eben diesem Spannungsfeld oder um eine Abbildung und um Sichtbarkeit der Pluralität im literarisch-lyrischen Diskurs handelt.
    Abschließend betont Walther, dass es queere Lyrik definitiv, diesen Band aber nur bedingt braucht. Hier lässt sich das Wortbild der sich selbst in den Schwanz beißenden Katze aus der Besprechung wiederholen. Lässt sich Lyrik so leicht kategorisieren? Oder ist sie Abbild einer Gesamtgesellschaft, in diesem Fall Abbild eines Gesellschaftsausschnitts? Wenn letzteres zutrifft, dann – das kann ich auch ohne den Band gelesen zu haben konstatieren – braucht es So gerade / nicht in jedem Fall, denn er ist Abbild eines lyrisch-literarisch unterrepräsentierten Gesellschaftsausschnitts.

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