Der Rand der Massen – Ottessa Moshfegh erzählt von Außenseitern, Verlierern und Verdrängten. Und in jedem steckt etwas Großes.
Von Jan-Marco Jahnke
Mr. Wu geht täglich in dieselbe Spielhalle, um seinen kläglichen Lohn zu verzocken und ein Fünkchen Liebe zu erfahren, wenn er die Spielhallenmitarbeiterin beim Nagelfeilen beobachtet. Seine unheimliche Kontaktaufnahme entwickelt sich zu einem Himmelfahrtskommando. In „Eine dunkle kurvenreiche Straße“ verbarrikadiert sich ein werdender Vater in einer Holzhütte im Wald, raucht Gras und scheitert fast bei dem verzweifelten Versuch, noch einmal einen Fehler zu machen, bevor seine Vaterschaft ihm diesen Luxus für lange Zeit verwehren wird. Das viel zu junge Mädchen, das dann anklopft und die Nacht Meth rauchend mit ihm in der Hütte verbringt, erscheint dabei nahezu wie eine Erlösung. Und dann ist da noch Jeb, ein alter Nachbar mit fleckiger Haut, den sein trostloser Alltag dazu verleitet, noch einmal eine hübsche junge Frau, das Mädchen von nebenan, zu verführen. Natürlich ist dort ein Ekel, der sich beim Leser breit macht, aber auch ein verständnisvolles Flimmern. Darf ich noch einmal bewundert, vergöttert und geliebt werden? Ist das nicht ein Recht? Was, wenn auch ich eines Tages…? Jede Story ist ein Blick durch‘s Schlüsselloch, da ist nichts im Leben der Menschen, keine glückliche Fügung, keine Kraft, nur ein konfuses Spiel aus Regungen und Hemmungen, das sie wohl oder übel ihr Schicksal nennen müssen. Aber bei all diesen Komplexen und Zwängen ist „Heimweh nach einer anderen Welt“ kein pessimistisches Buch. Es fragt vielmehr: Wie pflegt der moderne Mensch die Fassade des Funktionierens, wie erholt er sich davon und vor allem: Worüber würde er niemals sprechen? Natürlich passiert das nicht explizit, sondern virtuos verpackt in Geschichten, die niemals aussprechen, was sie dem Leser sagen. Sie sind auch nicht überzogen oder unglaubwürdig, vielmehr tritt häufig das Extrem gar nicht ein. Die verhasste und ewig lähmende Mittelmäßigkeit fließt einfach unermüdlich voran. Die kleinen kaum spürbaren Wogen in dieser Monotonie erzeugen die Nichts-mehr-zu-verlieren-Menschen mit Körperkult und destruktiven Liebesbeziehungen. Eine Frage, die immer wieder aufkommt: Ist dieses großartige Lesevergnügen voyeuristisch? Ganz bestimmt. Aber vielleicht ist Voyeurismus erlaubt, wenn wir in jeder von Moshfeghs Figuren auch ein wenig von uns selbst entdecken, ein wenig Abschaum, um zu funktionieren.
Ottessa Moshfegh, Heimweh nach einer anderen Welt, Stories, Liebeskind, 2020, ISBN: 395438115X, Hardcover, 336 Seiten, 22,00€.