Lass uns mit den Toten tanzen – Eine Tanzaufforderung an etablierte gesellschaftliche Normen, Werte und Handlungen

von Oliver Bruskolini

Im Hintergrund laufen die letzten Schliffe an unserer kommenden Ausgabe „Welt retten / Ruinen“, nebenbei planen wir schon für das kommende zugetextet-Jahr. Es wird wieder Lesungen, spannende Interviews, Rezensionen, Veranstaltungshinweise, allerhand Lesenswertes und natürlich eine neue Ausgabe unter dem Motto „Weltstaat / Zersplitterung“ geben. Da trifft es sich ausgezeichnet, wenn ein Roman erscheint, der nicht nur die Winterlücke, sondern auch den Übergang zwischen unseren Ausschreibungsthemen schließt. Hier also ein kleiner Vorgeschmack auf die jetzt erscheinende und im nächsten Jahr erwartete Ausgabe…

Pia Klemp, Lass uns mit den Toten tanzen, Roman, MaroVerlag, Augsburg 2019, 1. Auflage, ISBN 978-3-87512-491-0, Hardcover, 224 Seiten, 20,00€.

©MaroVerlag

In diesem Jahr veröffentlichte die Iuventa- und Sea-Watch 3-Kapitänin Pia Klemp ihren zweiten Roman Lass uns mit den Toten tanzen im MaroVerlag. Dabei tänzelt sie souverän über die imaginäre Grenze zwischen kritisch-interessanten Denkanstößen und Schlägen in die Magengrube, unverblümtem Idealismus und zynischer Resignation sowie Philanthropie und Misanthropie, wohl bewusst, sie hier und da nonchalant zu übertreten. Gut so, denn es bringt LeserInnen dazu, sich selbst und die eigene Lebenswelt zu hinterfragen und zielt auf ein Wechselbad der Empfindungen bei der Rezeption.

Lass uns mit den Toten tanzen behandelt thematisch primär die Seenotrettung im Mittelmeer. LeserInnen erhalten einen Einblick in vereinzelte Abläufe, in Problematiken und Belastungsgrenzen der NGO-Arbeit auf hoher See. Pia Klemp fokussiert dabei nicht schlicht das Retten von Menschenleben, inszeniert die Seenotrettung nicht als Heldentat, sondern viel mehr als humanitäre Pflicht, die seitens der mit einem Friedensnobelpreis bedachten Europäischen Union nicht nur ignoriert, sondern vielfach behindert, ja sogar kriminalisiert wird. Dieser Umstand ist keine Neuigkeit, werden mit der Thematik Vertraute jetzt denken. Dennoch ist es spannend, wenn AktivistInnen an vorderster Front die Zustände und Mechanismen dieser Problematik literarisch verarbeiten.

Über den Inhalt soll an dieser Stelle nicht zu viel verraten werden, nur dass die Autorin einige interessante Baustellen des Zeitgeschehens aufgreift und in eine stringente Handlung einbettet. Lass uns mit den Toten tanzen zielt nicht nur auf, man kann es kaum anders formulieren, das Scheitern der Europäischen Union in humanitären Belangen, inszeniert NGO’s nicht als heldenhafte Auswege aus der politisch geschaffenen Misere. Mit kleinen Spitzen bearbeitet Pia Klemp in diesem Roman einiges mehr, nämlich so ziemlich all das, was einer patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft heilig ist. Irgendwo zwischen Feminismus, Veganismus, Humanität, Anarchie und Radikalität bezieht sie deutlich Stellung. Das ist auf zwei Ebenen besonders wichtig: einerseits in der Gesellschaft, in der Ungerechtigkeiten, Doppelmoral und Diskriminierung viel zu oft schweigend und unhinterfragt hingenommen werden und andererseits in einer Literaturszene, in der dermaßen aneckende und haltungsvolle Werke immer wieder zwischen der Wohlbefindlichkeits- und Trivialliteratur, in der bedeutende Inhalte häufiger zwischen technisch und stilistisch sauberen Werken hervorschimmern sollten.

Pia Klemp, Foto: Andreas Schmidt

Denn genau da liegt die Stärke von Lass uns mit den Toten tanzen. Auch wenn LeserInnen durchaus spüren, dass Pia Klemp das Schreiben beherrscht, dass sie mit der Sprache vertraut ist, zeigt sich immer wieder, dass sie sich deutlich von den formbedachten AutorInnen abgrenzt. Es ist nicht die Bildhaftigkeit ihrer Sprache, nicht das atemberaubend vernetzte Plotting, was den Roman ausmacht. Stilistisch prägend ist viel eher der Zynismus, der Hauch von Nihilismus, das auch sprachliche Angreifen bestehender Normen, was dazu führt, dass Stil und Inhalt eine Symbiose eingehen.

Insgesamt ist Pia Klemps Lass uns mit den Toten tanzen mehr als einfach nur empfehlenswert. Man mag zum Inhalt stehen, wie man möchte, das Werk bietet denkwerte Anstöße und Einsichten, die definitiv gesammelt werden sollten. Es weckt beim Lesen Emotionen, zwischen Belustigung und Abscheu, zwischen Empathie und Kälte, zwischen Zustimmung und einem schlechten Gewissen. Es bewegt. Die starke Figurenzeichnung und die Handlung reißen Lesende mit, in humanitäre Gefechte auf hoher See und auf dem Land. Vor allem aber wirft Pia Klemp eine simple wie wichtige Frage in den Raum, mit der jede/r Lesende sich im Anschluss an die Lektüre konfrontiert sieht: Warum?

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