Ausschreibung “Abschied”: Du bist kein kleines Kind mehr
Du bist kein kleines Kind mehr
von Sophie Jauch
Die Tür knallte so sehr, dass die Wände zitterten. Ihr reichte es. Sie wollte Abstand zu ihren Eltern, mehr Abstand, als die Tür zu ihrem Kinderzimmer bieten konnte. Sie stellte sich an das offene Fenster. Eiskalte Novemberluft wehte ihr ins Gesicht. Der Garten sah mit seinen kahlen Baumskeletten vor dem grauen Himmel genauso freudlos aus wie sie sich fühlte.
Du bist kein kleines Kind mehr, hatten ihre Eltern betont. Wieder und wieder sagten sie das. Sie sagten es und schrieen es und schimpften es. Was es bedeutete, erwachsen zu werden. Verantwortung zu tragen. Freiheit zu genießen.
Du bist kein kleines Kind mehr.
Ja eben, wollte sie dann brüllen. Wieso behandelt ihr mich dann so?
Ihre Eltern bevormundeten sie, wo immer sie konnten. Sie legten irrsinnige Regeln fest, nur weil sie es wollten. Sie hasste ihre Eltern dafür. Sie wollte etwas sagen. Aber sie traute sich nicht und schwieg alle Worte, die sie am liebsten laut gerufen hätte.
Wütend sah sie in den Garten, auf den knorrigen Apfelbaum. Wie konnten ihre Eltern nur denken, ihre Lebensjahre hätte ihnen weise Erkenntnisse eingebracht, die sie nicht durchschauen konnte? Wieso versuchten sie nicht, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen?
Sie begann zu frieren und schloss das Fenster. Ungeschickt stieß sie gegen ihr Nachtschränkchen. Der dunkelblaue Bilderrahmen rutschte zu Boden. Sie hob ihn auf. Hinter der zerbrochenen Scheibe steckte ein Bild, das aus einer anderen Welt zu kommen schien. Es zeigte sie, mit blonden Zöpfen und einem riesigen Schokoladeneis zwischen ihren Eltern. Es war uralt. Ihre Mutter versuchte, ihren schokoverschmierten Mund abzuwischen, und ihr Vater strahlte in die Kamera.
Es war einer dieser wunderbar warmen und glücklichen Sommertage gewesen, an denen man sich unbesiegbar fühlte. Auf einmal war ihre Wut verschwunden. Stattdessen brannten Tränen in ihren Augen. Wieder hallte die Stimme ihrer Mutter in ihren Ohren.
Du bist kein kleines Kind mehr.
Ja eben, dachte sie, das ist es ja.
Sie wusste, dass sie vorbei war. Oder zumindest zu Ende ging. Die Zeit, in der ihr Vater sie vor allem hatte beschützen können. In der ihre Mutter immer wusste, was zu tun war. In der ihre Eltern ihr alles abnehmen konnten, was sie bedrückte.
Sie wusste es und hatte eine wahnsinnige Angst davor.
Nicht, weil etwas zu Ende ging, sondern weil sie nicht wusste, wie sie das meistern sollte, was danach kommen würde. Ihr Gewissen meldete sich. Eigentlich hasste sie nicht ihre Eltern. Sie hasste sie nicht, weil sie ihr sagten, dass sie kein kleines Kind mehr war. Sie hasste, dass sie Recht hatten.
Sie traute sich einfach nicht aus dem kuschelig gemütlichen Kinderzimmer in die komplizierte Welt hinaus. Noch nicht. Denn dort wehte ein anderer Wind. Sie würde wissen müssen, was sie wollte. Sie müsste Entscheidungen treffen und damit leben können. Und davor fürchtete sie sich mehr als vor allem anderen.
Sie stellte das Foto zurück auf ihren Nachttisch und betrachtete die Gesichter ihrer Eltern. Sie sahen so zufrieden aus und so angekommen in ihrem Leben. Als hätten sie die richtigen Entscheidungen getroffen. Wer sonst könnte ihr helfen, sich zurechtzufinden, außer ihrem Vater, der sie vor fast allem beschützen konnte und ihrer Mutter, die beinahe immer einen Rat wusste?
Nein, sie war wirklich kein kleines Kind mehr. Aber sie war trotzdem die Tochter ihrer Eltern und würde es immer bleiben.
Sie lächelte. Ich werde mit meinen Eltern reden, dachte sie, stand auf und öffnete die Tür.
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