William P. Gottlieb - LOC, Public Domain, Wikimedia Commons https://www.mentalfloss.com/article/94742/10-fascinating-facts-about-ella-fitzgerald

Jazzgeschichten: Die größte Sängerin …

… weil das mit dem Tanzen nichts geworden ist

Jazzgeschichte von Dieter Feist

Ella ist die größte. Ella Fitzgerald.

Eigentlich will ich über Jazzsängerinnen schreiben, so ganz allgemein, von den Anfängen bis da und wo, bis in die neue Zeit. Ich habe in Büchern herumgelesen, mich weltweit im Netz verfangen – und bleibe immer wieder bei Ella hängen. Ich ziehe einer dieser queen-of…-Platten aus dem Regal, und beim Zuhören bestätigt sich, was ich mir eigentlich schon immer gedacht habe: Ella Fitzgerald ist die Königin, die größte aller Sängerinnen. Überhaupt. Und aller Zeiten. Bisher. Wahrscheinlich auch weiterhin. Finde ich.
Sie ist der Callas ebenbürtig, ebenso wie der stimmgewaltigen Jessye Norman und der Netrebko heutzutage auch. Was sage ich – ebenbürtig? – in meinen Ohren ist sie jeder klassischen Sängerin überlegen.
Es ist der Stimmeinsatz. Warum, warum nur verschandeln klassische Sängerinnen ihre schönen Töne mit diesem permanenten Vibrato? Das eiert ganz schön auf und ab und den Text versteht man nicht mehr, wenn man nicht das Libretto auf den Knien hat. Es ist mehr etwas für die eingeweihten Klassikfans, die jede Oper ohnehin schon kennen. Die mögen das. Ich nicht.
Hör dir irgendeinen Song von Ella an und du wirst jedes Wort verstehen, das sie singt – sofern du Englisch kannst. Die Töne sind kristallklar, die Intervalle gestochen scharf, es sein denn, sie will sie mit Absicht rundlich schleifen. Sie gestaltet jede Melodie, nein, jeden einzelnen Ton, als wäre er der allerwichtigste von allen.
Gut, der letzte Satz gilt auch für Maria Callas und die anderen. Aber nur fast. Denn sie müssen genau die Töne singen, die jemand irgendwann aufs Papier komponiert hat. Werkgetreu, wofür auch noch ein Dirigent sorgt, der sich mit seinem Stab überall einmischt.

Ella Fitzgerald brauchte keinen Dirigenten und ein Notenblatt schon gar nicht. Ihr Anspruch an Werktreue bestand darin, dass ein bestimmter Song grundsätzlich erkennbar bleiben musste. Aber schon im Thema konnte sie sich Freiheiten der Interpretation herausnehmen, die Melodie variieren, die Dynamik gestalten, im Einklang mit dem begleitenden Orchester. Und wenn sie danach erst richtig loslegte und improvisierte!
Die Macht ihrer Stimme zeigt sich auch in leisen Tönen, dann schwillt sie unvermittelt wieder an, tanzt auf und nieder über vier Oktaven, traumwandlerisch sicher ist dabei die rhythmische Phrasierung. Und natürlich kann sie das mit dem Vibrato auch. Doch dies als Steigerung, wenn die Dramatik es verlangt, es ist nur ein Register unter vielen, und plötzlich, vielleicht bereits im nächsten Takt, man weiß es vorher nicht, zieht sie vielleicht ein anderes. Die allertrivialsten Songs erhebt sie so zum Kunstwerk, sie macht sie sich zu eigen, als wären sie nur für sie geschrieben.
Legendär ist Ellas Scatgesang. Mit den größten Jazzsolisten konnte sie es aufnehmen, noch jeder fand es eine Ehre, mit ihr zu musizieren, und zum Besten, was die Schallplatten erhalten haben, gehören ihre Dialoge mit anderen Instrumenten oder auch mit ganzen Bands. Das war nicht bloß eine Stimme, die Songs zum Besten gab – das war ein Instrument, ohne dass sie eines in den Händen halten musste.

Ganz klein und zufällig waren die Anfänge. Für einen Tanzwettbewerb hatte sie sich beworben und weil sie so nervös war, dass sie am ganzen Körper zitterte und keinen vernünftigen Schritt zustande brachte, sang sie ein Lied stattdessen, ganz spontan – und wurde als Sängerin entdeckt.
Frühe Photographien zeigen ein schüchternes Mädchen, das nicht weiß, wohin mit seinen Händen. Die Sicherheit beim Singen wuchs, und schon bald entwickelte sich die Eleganz der Stimme für ein langes, reiches Bühnenleben. Aber Ella Fitzgerald wurde keine Diva. Die Bescheidenheit, die sie in über sechzig Jahren auf der Bühne zeigte, war keine bloße Geste. Sie wollte nichts anderes mehr als nur singen, ihr Leben lang, nachdem das mit dem Tanzen nichts geworden war. Von Beifall fühlte sie sich geschmeichelt, aber bejubelt zu werden, war ihr peinlich. Die späten Konzerte bestritt sie sitzend, bei ungebrochener Stimmgewalt, weil sie die Beine nicht mehr trugen. Bei den letzten Auftritten war sie durch Diabetes fast erblindet, sie saß im Rollstuhl, weil man ihr beide Beine amputiert hatte. Aber sie sang. Und noch immer konnte sie kaum eine Note lesen.

Photo: Herman Leonard Ella Fitzgerald. https://www.ledevoir.com/culture/actualites-culturelles/294476/l-ere-du-jazz-vue-par-herman-leonard
Photo: Herman Leonard Ella Fitzgerald.
https://www.ledevoir.com/culture/actualites-culturelles/294476/l-ere-du-jazz-vue-par-herman-leonard

Eines der schönsten Photos der Sängerin, aufgenommen 1949 im New Yorker Downbeat*, zeugt von ihrer zurückhaltenden Präsenz. Sie steht am Mikrophon, die Augen konzentriert geschlossen und ohne große Bühnenpose. Und unten an den ersten Tischchen sitzen mit großen Augen die Großen der Zunft: Duke Ellington, Benny Goodman und der Musicalkomponist Richard Rodgers, hingerissen und sprachlos vor Bewunderung.

Ella Fitzgerald war eine bescheidene Königin.

Und was ist nun mit all den anderen Jazzsängerinnen? Billie Holiday, Sarah Vaughan, Carmen McRae, Betty Carter und viele andere ‚große‘ bis zum heutigen Tag. Hatte doch jede eine eigene Stimme im Jazz. Von ihnen wird zu berichten sein, an anderer Stelle, denn bedeutungslos ist keine von ihnen.
Doch jetzt nochmal zurück zum Anfang. Natürlich liegt es mir fern, die großen Opernstimmen herabzuwürdigen. Wer Maria Callas nie eine Verdi-Arie hat singen hören, hat entschieden was verpasst. Jessye Norman als vor Selbstbewusstheit strotzende und danach zugrunde gehende Carmen muss man erlebt haben. Große Stimmen, unbestritten.
Ich habe nachgelesen. Das Vibrato wurde im 19. Jahrhundert in den Gesangsstil eingeführt, damit die Stimmen sich gegen die immer größer werdenden Orchester in der Lautstärke durchsetzen konnten. Das kann man nachvollziehen, zum Beispiel bei der Callas, wenn sie in frühen Jahren auf der Bühne stand, hinter sich ein achtzigköpfiges Orchester. Und, zugegeben, Ella Fitzgerald ohne Mikrophon hätte gegen Count Basies Bläsersektion keine Chance gehabt.
Doch heute, da doch nichts mehr ohne feinste Technik geht, und jedes Musikereignis, sorgfältig abgemischt, rund um den ganzen Erdball gesendet wird, trägt doch sowieso jede Sängerin diskret ein Mikrophon am Kragen. Welch eine Gelegenheit für reine Töne, für Zwischentöne, für neue, bisher unerhörte Dynamik, für Experimente, und vielleicht für ein weites Feld an musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten.
Anna Netrebko zumindest ist noch jung genug.

Bis dahin und auf Weiteres bleibt Ella Fitzgerald für mich die Größte.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert