Die Widmung
Die Widmung
Dramolett von Nicola Bittscheidt
[Ein Mann sitzt an einem Bistrotisch und wendet sich an seine Sitznachbarin, die in einem Buch blättert].
Er: „Hast du‘s gut.“
Sie: „Wieso?“
Er: „Du hast das Buch noch vor dir.“
Sie: „Nicht ganz, es ist mein dritter Anlauf.“
Er: „Dritter Anlauf? Bis wohin bist du denn gekommen?“
Sie: „Geht dich zwar nichts an, aber das erste Mal musste ich schon auf Seite drei würgen. Beim Neustart hab ich’s bis zum zweiten Kapitel geschafft, und jetzt hänge ich zwischen Seite 75 und 76 fest.“
Er: „Kenn ich, aber gib jetzt nicht auf. Ich sag‘ dir, es lohnt es sich. Obwohl: Vielleicht ist es nicht dein Buch.“
Sie: „Kann man wohl sagen. Uns trennen Welten.“
Er: „Warum lässt du’s dann nicht einfach?“
Sie: „Weil‘s ein Geschenk war.“
Er: „Machst du das mit allen Geschenken so? Dich quälen?“
Sie: „Nur wenn es für mich geschrieben wurde.“
Er: „Wie jetzt? Kennst du den Autor oder so?“
Sie: „Flüchtig. Er hat es mir gewidmet: ‚Für Tess‘, das bin ich.“
Er: „Wow! Du bist Tess? Ich meine: Wow!“
Sie: „Wie man’s nimmt.“
Er: „Mann, was würd ich geben, wenn mir jemand dieses Buch gewidmet hätte! Ich hab‘s verschlungen.“
Sie: „Ich glaub, mir wird schon wieder schlecht. Was um Himmels Willen gefällt dir daran?“
Er: „Schwer zu sagen, ich mag alles von Julius Merwein. Ich finde, er schreibt genial. Und deins hier ist der Wahnsinn. Als Tessa, die Hauptfigur, im letzten Kapitel stirbt – so weit schaffst du’s ja eh nicht – das hat mich umgehauen, nach der ganzen Schöngeisterei.“
Sie: „Er lässt mich sterben?“
Er: „Dich? Wieso dich? Ach so … Tess – Tessa – klar.“
Sie: „Du hast meine Frage nicht beantwortet: Er lässt mich sterben?“
Er: „Aber sowas von.“
Sie: „Verdammt!“
Er: „Seid Ihr zusammen oder so?“
Sie: „Eher entzweit. Wir hatten einen Riesenkrach – warum erzähl ich dir das eigentlich, wir kennen uns überhaupt nicht – ach egal, seit einem Jahr ist Funkstille, und als ich neulich ein paar Sachen bei ihm abholen wollte, hat er gesagt, er redet erst wieder mit mir, wenn ich sein Buch gelesen habe, da stünden alle Antworten drin.“
Er: „Oh …“
Sie: „Was soll das heißen?“
Er: „Na ja, das Schlusskapitel heißt ‚Die Abrechnung‘, und, wie soll ich sagen, die Sterbeszene … also sterben wär‘ beschönigt, es ist mehr ein Massaker, es wird so richtig trashig und sehr unschön.“
Sie: „Das kann er gut.“
Er: „Was?“
Sie: „Überraschende Wendungen.“
Er: „Aber sie stirbt mit Würde. Ihre letzten Worte sind ‚Ich hab‘ immer an uns geglaubt‘, und dann nimmt er die Flex. Das ist so cool.“
Sie: „Verschon mich bitte mit den Einzelheiten.“
Er: „Ne, klar, versteh‘ ich. Ist für dich jetzt auch echt übel, so in der Opferrolle. Es ist mir’n bisschen unangenehm, aber, wann ist man schon mal so nah an der Quelle, und auf der Homepage steht auch nichts, also, worum’s mir geht: Hat er irgendwas von ‘ner Fortsetzung angedeutet?“
Sie: „Was glaubst du, mhm? Die Hauptperson stirbt in einem Blutbad. Ich rate jetzt einfach mal ins Blaue und sag‘ nein. “
Er: „Ich weiß, ist eher unwahrscheinlich, aber Ihr könntet doch euren Streit klären, ich meine jetzt in echt, und er merkt, dass er dich noch immer liebt, also auch in echt, und in der Fortsetzung könnte er sich, nachdem er dich abgeschlachtet hat, ebenfalls umbringen, um wieder mit dir vereint zu sein, und dann startet ihr noch mal ganz neu, in einer neuen Dimension. In der Fortsetzung.“
Sie: „Ich muss sagen, das hat was. Wie heißt du eigentlich?“
Er: „Gute Frage, wo ich doch jetzt alles über dich weiß. Ich bin Olli. Bist du oft hier?“
Sie: „Nein, ich bin oft nicht hier.“
Er: „Stimmt, sonst wärst du mir bestimmt schon aufgefallen, ich meine, HALLO, du bist Tess, meine Heldin.“
Sie: „Hast du mal ‘nen Stift, Olli?“
Er: „Klar. Ich glaub das hier grad nicht. Zum Nummern austauschen, oder?“
Sie: „Noch viel besser, ich geb dir die private Handynummer von Julius. Er liebt es, wenn ihn Fans anrufen. Wahre Fans.“
Er: „Cool!“
Sie: „Du erreichst ihn am besten nachts. Er ist ein richtiges Arbeitstier. Lass ruhig lange klingeln, wenn er nicht gleich drangeht. Sag einfach, du hast die Nummer von seiner Agentin, die sind so [kreuzt die Finger], glaub mir, und dann könnt ihr zusammen die Fortsetzung durchgehen. Genau wie du’s vorgeschlagen hast, das hat Potential.“
Er: „Danke. Ich hab‘ auch mal geschrieben, hab‘s nur nie eingereicht.“
Sie: „Dachte ich’s mir doch. Und sei ruhig hartnäckig. Du kannst ihm auch auf den AB quatschen, warte, hier ist seine Festnetznummer.“
Er: „Du bist echt schwer in Ordnung.“
Sie: „Kein Ding. Ach ja, am Wochenende ist er oft in seiner Zweitwohnung, wenn er ungestört arbeiten möchte. Ist ein bisschen außerhalb. Hier ist die Adresse …“
Er: „Und ich kann da einfach so vorbeikommen?“
Sie: „Klar, er ist total spontan.“
Er: „Meinst du, ich kann ein paar Leute mitbringen?“
Sie: „Je mehr, desto besser. Aber wenn du ihm ‘ne echte Freude machen willst, poste euren Besuch doch auf Facebook. Er liebt Starrummel.“
Er: „Im Ernst?“
Sie: „Na logo. Ich kann mich noch an die letzte Verlagsaktion erinnern: ‚Ein Abend mit Julius Merwein‘. Er schwärmt heute noch davon. Wie wär’s mit ‘nem Flashmob?“
Er: „Genial.“
Sie: „Na dann viel Spaß. Ach, eins noch: Bestell ihm schöne Grüße von Tess, der Geschlachteten.“
Er: „Mach ich. Und viel Glück euch beiden, ihr kriegt das bestimmt wieder hin.“
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